Zerstörte Seelen
jedenfalls keinen zweiten pensionierten Cop, der sich dies gewaltige, viktorianisch anmutende Anwesen hätte leisten können. Es thronte hoch auf einer Klippe und bot einen atemberaubenden Blick aufs Meer. In der Einfahrt standen ein Mercedes und ein Lexus, und allein die Gestaltung des Vorgartens hatte mit Sicherheit ein kleines Vermögen gekostet. Mit den vielen frischen Herbstblumen hätte man eine mittlere Gärtnerei bestücken können.
Der Mann, der ihr die Tür öffnete, war etwas kleiner als sie. Darby schätzte ihn auf etwa eins fünfundsechzig. Er trug einen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt, Jeans und abgewetzte Slipper. Mit seiner schlanken Statur und dem dichten blonden, seitlich gescheitelten Haar, das nur schwach von Grau durchzogen war, hätte John Smith leicht als Anfang fünfzig durchgehen können. Doch sein zerfurchtes Gesicht und die Tränensäcke unter den strahlend blauen Augen zeigten deutlich, dass er keinen Tag jünger war als 72.
Smith führte sie durch das helle Foyer in eine Küche von der Größe eines Basketballfeldes. Er zeigte auf die Becher an der Espressomaschine. «Bedienen Sie sich. Oder möchten Sie lieber etwas Stärkeres?»
«Danke. Kaffee ist genau richtig.»
«Ich gönne mir einen kleinen Schluck Medizin. Nichts für ungut.» Er zwinkerte ihr mit einem wässrigen Auge zu und goss Bushmills in ein Longdrinkglas. «Gehen wir nach draußen, damit ich rauchen kann.»
Er zog sich eine L.-L.-Bean-Jacke über und führte Darby mit dem mit wenig Eis und viel Whiskey gefüllten Longdrinkglas in der Hand in ein Wohnzimmer, dessen bodentiefe Fenster zum Meer hinausgingen. Dann öffnete er die Schiebetür zu einem Balkon, der sich über die gesamte Seite des Hauses erstreckte. Unten lag ein felsiger Privatstrand, und ein Stück weiter rechts wuselten auf dem sonnenbeschienenen Rasen vier Welpen mit kurzen Beinen und runden Bäuchen um eine zierliche ältere Frau mit einem Futternapf in der Hand.
«Meine dritte Frau, Mavis», sagte Smith. «Ich danke Gott dafür, dass sie mir begegnet ist.»
Dein Bankkonto wird sich auch bedankt haben
, dachte Darby. Kein pensionierter Polizeibeamter konnte sich eine solche Lage leisten.
«Die meisten Leute glauben, ich hätte sie nur wegen ihres Geldes geheiratet.» Er drehte sich zu Darby und blinzelte in die schwindende Nachmittagssonne. In nicht ganz einer Stunde würde es dunkel sein. «Das denken Sie doch auch, nicht wahr?»
«Ich kenne nicht viele ehemalige Cops, die in Häusern mit Meerblick wohnen.»
«Sehr diplomatisch ausgedrückt.» Beim Lächeln zeigte er schiefe Zähne, deren Braunfärbung auf ein langes Leben voller Kaffee und Zigaretten hindeutete. «Ich nehme es Ihnen nicht übel. So wie Sie denken fast alle. Mavis war Kinderchirurgin und lange Single. In der Freizeit hat sie sich mit ihren Aktien beschäftigt. Auf diesem Haus liegt keine Hypothek, es gehört ihr bis zum letzten Stein, und an Geld fehlt es uns nicht. Ich verbringe meine Zeit mit Angeln und erledige, was ums Haus so anfällt. Mavis kümmert sich um herrenlose Hunde, vermittelt sie an neue Besitzer. Was ich hier habe …» Er machte eine ausholende Geste, «… das nenne ich den gerechten Ausgleich für die ganze Kacke, durch die ich mich wühlen musste.»
Er hielt Darby mit zittriger Hand eine Packung Marlboro hin. Sie lehnte höflich ab. Smith zeigte auf zwei von Wind und Sonne gebleichte Gartenstühle an einem sonnigen Fleck in der Ecke.
Er setzte sich so, dass er aufs Meer schauen konnte. Darby rückte ihren Stuhl ein wenig zurecht. Sie wollte zwar sein Gesicht sehen, dabei aber nicht das Gefühl aufkommen lassen, es handle sich um ein Verhör. Sie studierte gerne die Körpersprache ihres Gegenübers.
Smith legte die dünnen Lippen um eine Zigarette und zog sie aus der Packung. «Nach Ihrem Anruf habe ich in diesem Internet-Ding nachgesehen. Wie heißt das noch mal?»
«Google?»
Er schnippte mit den Fingern. «Genau. Mavis musste es mir zeigen. Der ganze Computerkram ist irgendwie an mir vorbeigegangen. Aber ich kann immerhin mit der Maus auf Symbole klicken.» Er wölbte die Hand um sein Feuerzeug, lehnte sich zurück und sog den Zigarettenrauch ein. «Sie hatten bislang eine ziemlich … ehm … bemerkenswerte Laufbahn bei der
Bostoner Polizei
.» Ein listiges Grinsen. «Wissen Sie, wie wir Leute wie Sie immer nannten?»
«Ausnahmetalente?»
«Nein. Shit-Magnets. Sie ziehen Ärger magisch an.»
Das sagte er ohne jede Boshaftigkeit. Darby fragte
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