Zeugin am Abgrund
Blatt, das ziellos, frei und ungebunden war und von der Strömung mitgerissen wurde.
Allmählich kehrten die Realität und das Bewusstsein aber zurück und begannen an der angenehmen Lethargie zu nagen. Langsam hob sie ihre Augenlider, die schwer wie Blei waren. Sie sah über Sams nackte Schulter nach oben zur Decke. Großer Gott, was hatte sie getan?
Sam rührte sich und rollte zur Seite, dann blieb er auf dem Rücken liegen. “Jesus”, murmelte er.
Lauren wandte sich von ihm ab und wollte zum Bettrand rutschen, doch bevor sie entkommen konnte, hatte er schon seinen Arm um ihre Taille gelegt und zog sie zurück. “He, nicht so schnell. Wohin willst du?”
“Lass mich los.”
Er ignorierte ihre Aufforderung und drehte sie auf den Rücken, dann stützte er sich auf einem Ellbogen ab und schaute sie an. Er runzelte die Stirn, als sie rasch wegsah und sich weigerte, ihm in die Augen zu sehen. “Stimmt was nicht mit dir?”
Sie warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. “Ob etwas nicht stimmt? Ob etwas nicht stimmt? Ist das denn nicht offensichtlich?”
“Für mich nicht. Warum erklärst du es mir nicht?”
“Das hier. Wir”, sagte sie und machte eine ausladende Geste.
Er sagte nichts, sondern sah sie einfach nur an. Lauren stöhnte und schlug sich die Hände vors Gesicht. “Ich muss völlig verrückt sein! Wie konnte ich das nur zulassen? Wie konnte ich mit einem Mann schlafen, den ich kaum kenne? Und dann bist du auch noch dieser Mann.”
Sam versteifte sich. “Meinst du, wie du es zulassen konntest, dass dich ein Halbblut anfasst? Geht es darum?”
“Was?” Sie nahm die Hände weg und sah ihn verständnislos an, doch dann erkannte sie, was er gemeint hatte. “Oh, jetzt mach dich doch nicht lächerlich! Natürlich geht es nicht darum! Es hat überhaupt nichts damit zu tun, ob du zur Hälfte indianischer Abstammung bist.”
“Was ist dann dein Problem?”
“Du magst mich nicht einmal. Wie konnte ich da mit dir schlafen? Das ist mein Problem.”
“Ich mag dich.”
“Ach, hör auf. Du hältst mich doch für Carlos Geliebte”, warf sie ihm vor.
“Ist das alles, was dir Sorgen bereitet? Meine Güte, ich glaube das schon seit Tagen nicht mehr. Nachdem ich dich eine Weile um mich hatte, wurde mir klar, dass du nicht der Typ dafür bist.”
“Ach ja?” Lauren schnaubte, da sie sich offenbar beleidigt fühlte. “Und warum nicht?”
“Du bist viel zu intelligent und zu eigenständig.”
Entwaffnet blinzelte sie ihn an. “Wirklich?”
“Ja, wirklich.”
“Oh.” Er hätte nichts sagen können, was ihr besser gefallen hätte. Sie hatte hart daran gearbeitet, unabhängig zu sein. Trotzdem wollte sie nicht so recht glauben, dass er wirklich meinte, sie habe ihre Eigenständigkeit erreicht.
Aus dem Augenwinkel warf sie ihm einen zweifelnden Blick zu. “Wenn das stimmt, warum bist du dann so gehässig zu mir gewesen?”
“Um zu verhindern, dass das geschieht, was jetzt geschehen ist.”
“Oh, vielen Dank. Das ist ja sehr nett. Wenn du so denkst, warum hast …”
“Es gibt manchmal Dinge, gegen die man nicht ankämpfen kann. Gott weiß, wie sehr ich es versucht habe. Ich wollte dich nicht mögen. Ich habe mir eingeredet, du seist eine billige Hure und eine Schmarotzerin, aber es hat alles nichts geholfen. Auch als ich es noch halbwegs geglaubt habe, wollte ich dich trotzdem haben.”
“Was?”
“Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wie du in diesem schäbigen Verhörzimmer auf und ab gelaufen bist, in deinen kaputten Strümpfen und deinem zerrissenen Kleid, hatte ich das Gefühl, von einer Dampfwalze überrollt zu werden. Ich glaube, du hast diese Anziehung gespürt, sonst würden wir jetzt nicht hier liegen.”
Lauren war erstaunt. Konnte es sein, dass er Recht hatte? Sie erinnerte sich, dass sie etwas empfunden hatte. Doch zu der Zeit war sie zu aufgeregt gewesen, um ihre Reaktion zu analysieren. Kurzerhand hatte sie es als Antipathie abgetan. “Das … darum geht es nicht. Auch wenn du es mir vielleicht nicht glaubst, aber ich schlafe mich nicht durch alle möglichen Betten.”
“Das weiß ich.” Sam lächelte sie an, als sie ihn wieder anblinzelte. Er strich mit seinem Zeigefinger über ihr Gesicht und sagte in einem heiseren Flüsterton: “Ich habe gemerkt, dass es schon eine ganze Weile her ist. Stimmt’s?”
Laurens Wangen begannen zu glühen. Sie biss sich auf die Lippe und sah wieder fort. “Seit Collin hat es niemanden gegeben”, erwiderte sie bedrückt.
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