Ziel erfasst
sich hinter einem Betonpfeiler. Die hellen Zuglichter warfen auf dem staubigen U-Bahnsteig lange Schatten. Clark schaute noch einmal zur Treppe hinüber, über die der Stasi-Mann verschwunden war. Dort bewegte sich jedoch nichts. Er wusste, dass er zehn Minuten auf den nächsten Zug warten musste, wenn er diesen hier verpasste.
Clark sprang auf den letzten Wagen auf. Tatsächlich konnte er sich an einem Haltegriff an der rückwärtigen Tür festhalten. Nach einigen Minuten Dunkelheit war er wieder in Westberlin. An der ersten Station sprang er von dem Zug herunter auf den Bahnsteig und mischte sich unter die anderen ausgestiegenen Passagiere. Dreißig Mi nuten später saß er in einem Linienbus zwischen lauter Westberlinern, die von ihrer Nachtschicht heimkehrten, und weitere dreißig Minuten später händigte er Gene Lilly die Negative aus.
Am nächsten Tag verließ er mit einem Linienflug die Bundesrepublik Deutschland. Er war sich sicher, dass nichts von dem, was am Tag zuvor geschehen war, jemals in den Archiven der CIA oder des DDR-Staatssicherheitsdiensts auftauchen würde.
Als er jetzt im kalten Kölner Regen stand, schüttelte er die alten Erinnerungen ab und schaute sich um. Das Deutschland von heute hatte wenig Ähnlichkeit mit der geteilten Nation von vor dreißig Jahren, und Clark erinnerte sich daran, dass die heutigen Probleme seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderten.
Um sechzehn Uhr wurde es an diesem grauen Tag bereits dunkel. Im Treppenhaus der Thieboldsgasse 13 ging jetzt das Licht an. Durch die Glastür beobachtete er, wie eine ältere Frau am Fuß der Treppe ihren Hund anleinte. Sofort überquerte Clark die Straße, zog seinen Mantelkragen noch höher und kam gerade an dem Gebäude an, als die Frau die Vordertür öffnete. Sie hatte die Augen bereits auf die Straße gerichtet und beachtete Clark nicht. Bevor die Tür sich wieder hinter ihr schloss, schlüpfte John an der Hauswand entlang und ins Treppenhaus hinein.
Er war mit seiner SIG-Sauer-Pistole in der Hand fast schon im ersten Stock angekommen, als die Haustür unten ins Schloss fiel.
Manfred Kromm reagierte auf das Klopfen an seiner Tür mit einem Stöhnen. Das war bestimmt wieder Herta, die auf der anderen Seite des Hausflurs wohnte. Sie hatte sich wahrscheinlich wieder selbst ausgeschlossen, während sie ihren kleinen grauen Pudel Gassi führte. Er würde also wieder einmal das Schloss ihrer Wohnungstür knacken müssen, wie er es schon Dutzende Male getan hatte.
Natürlich hatte er ihr nie erzählt, wo er das gelernt hatte. Sie hatte ihn auch noch nie danach gefragt.
Dass sie sich absichtlich aussperrte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, ärgerte ihn nur noch mehr. Die alte Frau ging ihm auf die Nerven. Sie war eine absolute Landplage, fast so lästig wie ihr kläffendes Hündchen. Trotzdem hatte Manfred Kromm sie noch nie merken lassen, dass er ihren Trick mit dem »vergessenen Schlüssel« durchschaut hatte. Als der Einzelgänger, der er war, würde er niemals einem anderen Menschen zeigen, dass er erkannt hatte, dass sich dieser für ihn interessierte. Also lächelte er weiterhin nach außen, stöhnte nach innen und schloss der alten Hexe ihre gottverdammte Tür auf, wann immer sie klopfte.
Er arbeitete sich aus seinem Stuhl hoch, schlurfte zur Tür hinüber und griff sich auf dem Tisch in der Diele seinen Dietrich. Er hatte die Hand bereits am Türriegel, um ihn zu öffnen. Aus alter Gewohnheit schaute er durch den Türspion. Er wollte bereits wieder wegschauen, als sich seine Augen vor Überraschung weiteten. Auf der anderen Seite der Tür stand ein Mann in einem Regenmantel.
Und dieser Mann richtete eine automatische Pistole aus rostfreiem Stahl mit einem aufgeschraubten Schalldämpfer direkt auf Manfred Kromms Tür.
Der Mann sprach so laut, dass man es durch das Türholz hörte: »Wenn Ihre Tür nicht aus schusssicherem Stahl besteht oder Sie sich schneller als eine Kugel bewegen können, sollten Sie mich besser hereinlassen.«
»Wer ist denn da?«, krächzte Kromm.
»Jemand aus Ihrer Vergangenheit.«
Und plötzlich erinnerte sich Kromm. Er wusste genau, wer dieser Mann war.
Und er wusste, dass er jetzt sterben würde.
Er öffnete die Tür.
»Ich kenne Ihr Gesicht. Sie sind älter geworden. Aber ich erinnere mich an Sie«, sagte Kromm. Wie von Clark gefordert, hatte er sich wieder auf seinen Stuhl vor dem Fernseher gesetzt. Seine Hände lagen auf den Knien, und er knetete langsam seine geschwollenen
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