Ziemlich beste Freunde
Absicht, am nächsten Tag Gibraltar zu erreichen. Gegen drei Uhr morgens werden die Wellen höher, das Meer ist in Aufruhr, aber nicht bedrohlich. Wir segeln weiter, alle Segel sind gesetzt. Reynier hat Wache, der Bug zerteilt die Wellen, das Schiff saust bei diesem Seegang vollkommen sicher dahin. Dann plötzlich ein gewaltiger Schlag. Schiffbruch! Offenbar hat einer der Leuchttürme an der Küste nicht funktioniert. Reynier hat seine Berechnungen anhand eines anderen Leuchtfeuers angestellt und wir sind geradewegs auf das Kap Sankt Vinzenz zugesegelt. Wie durch ein Wunder laufen wir auf eine sandige Stelle zwischen den Felsen auf. Die Erschütterung ist so heftig, dass ich direkt aus meiner Koje ins Meer geschleudert werde. Keiner wird verletzt, das Boot neigt sich zur Seite, ohne zu brechen. Bald tauchen im Dunst des frühen Morgens Bauern mit ihren Eseln zu unserer Rettung auf. Einige zurren das Boot fest, zünden ein Feuer an, damit wir uns wärmen können, andere laden unsere Sachen aus und bepacken ihre Esel. Wir folgen dem Konvoi ins Dorf, sie verständigen die Behörden. Die zwei Tage, die es dauert, um das Boot abzuschleppen, bleiben wir bei ihnen. Wir werden mit großer Herzlichkeit und Gastfreundschaft aufgenommen – Spuren selten gewordener Menschlichkeit, als könnte sie nur in der Armut gedeihen.
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Wenn ich an diese ersten goldenen Jahre zurückdenke, wird mir klar, dass ich ein verwöhntes Kind war. Unwillkürlich frage ich mich, welche Einflüsse mich wohl am meisten geprägt haben. Manches ist genetisch bedingt. Äußerlich ähnele ich Großvater Joe. Man sagt mir nach, ich hätte seinen Witz geerbt, genau wie seine Liebe zu den Frauen. Von Großvater Vogüé habe ich meinen Sinn für das Schöne, meine Eitelkeit und mein Streben nach Macht. Als ich später beim Konzern LVMH (Louis Vuitton – Moët Hennessy) arbeite, erinnert mich Marie-Thérèse, seine ehemalige und meine neue Sekretärin, ständig an diese Ähnlichkeiten. Granny verdanke ich meine Geisteshaltung: die puritanische Moral und die amerikanische Mentalität. Bis zu ihrer Eheschließung war sie Protestantin und die Strenge dieses Glaubens ist ihr zeitlebens geblieben, ebenso wie eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber materiellen, körperlichen Belangen.
In mir kommen die Erbanlagen und meine Vorliebe für den Lebensstil dieser beiden großen Familien zusammen – eine aus der Welt von gestern, und die andere ihrer Zeit weit voraus. Mein Pflichtbewusstsein verbindet sich auf eigentümliche Weise mit einer gewissen distanzierten Haltung gegenüber der Welt, die mich umgibt. Mir ist eine Mischung aus Fleiß und Hochmut eigen. Sogar nach den Schicksalsschlägen, sogar noch in meiner Bewegungslosigkeit bleiben dies meine widersprüchlichen Antriebskräfte.
11 Sokrates bezeichnete einst das Mittelmeer als das »Meer der tausend Lächeln«.
ZWEITER TEIL Béatrice
Zweite Geburt
Alles beginnt am Tag unserer ersten Begegnung. Wir sind zwanzig Jahre alt. Ein Innenhof der Fakultät von Reims. Beide sind wir zufällig dort: sie, weil sie ihrem Vater, dem Präfekten, nach Reims gefolgt ist, ich, weil ich meinen Eltern nicht ins Ausland folge.
Béatrice und ich werden fast unser ganzes Studium gemeinsam absolvieren. Die juristische und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät von Reims befindet sich in einem historischen Gebäude, in dem auch ein Altenheim untergebracht ist. Im linken Flügel sind die Alten, rechts die Studenten. Zwischen den beiden die Kapelle. Jedes Mal, wenn einer der Bewohner von links aus dieser Welt scheidet, wird sie mit einem schwarzen Baldachin versehen. Morgens beobachten die Alten zum Zeitvertreib unser Defilee ins Gebäude; aus ihren Blicken spricht Wehmut. Der Abstand zwischen uns könnte größer nicht sein: Sie haben mit allem abgeschlossen, wir sind voller Erwartungen.
Im Jahr 1969 ist diese Fakultät extrem links. Ich gehe kaum zu den Vorlesungen. Die meiste Zeit verbringe ich in einem kleinen, angrenzenden Café, das von einem ehemaligen Alkoholiker und seiner Frau geführt wird. Sie bevorzugt Knallrosa und trägt eine schwarze Perücke. Die beiden stellen sicher, dass beim Flippern und Zocken mehr Limonade als Bier fließt. Hin und wieder kreuze ich in der Uni auf, die inzwischen bestreikt wird, um bei den Vollversammlungen per Handzeichen für die Fortsetzung der Aktion zu stimmen. So vergeht die Zeit. Ich wiederhole mein erstes Studienjahr. Ich hätte auch mein ganzes Studium so
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