Ziemlich beste Freunde
Zeigefinger ändert er jede Minute die Neigung. Ständig geht es von der Horizontalen in die Vertikale und wieder zurück. Mit Schalk in den Augen erzählt er, dass er ein Wesen im Prozess fortschreitender Fossilisierung sei, überschwemmt von Kalzium. Um den Augenblick der vollkommenen Erstarrung hinauszuzögern, schüttelt er sich durch wie eine Flasche Orangensaft. Er klagt nie. Die Krankenschwestern haben mir gesagt, dass es das reinste Martyrium sein muss.
Ein anderer Bewohner, ein Koloss, der mindestens hundertfünfzig Kilo wiegt, ist unglaublich gewalttätig. Er schlägt mit den ausgestreckten Armen auf den Tisch und schaukelt dabei mit dem Oberkörper vor und zurück. Die Mädchen haben Angst vor ihm. Er spricht kein Wort, aber sein großer roter Kopf und die vorquellenden Augen verlangen ständig nach Essen. Bei ihm sitzen immer zwei, die ich »die Brüder« nenne, beides Sterbende, deren Kopf von einer Halskrause aus Plastik gehalten wird. Sie haben fast keinen Körper mehr, nur noch verkümmerte Knochen. Ihr Hals ist nicht mehr als fingerdick. Beide haben einen Luftröhrenschnitt, die Kanüle darin erweckt den grotesken Eindruck, sie trügen eine Fliege. Ihr Blick ist sanft. Letzte Woche waren sie noch zu dritt.
Monsieur Carron, Tetraplegiker wie ich, klagt über Schmerzen. Er hat Angst bekommen und um Verlegung ins Krankenhaus von Garches gebeten. Er wurde abgeholt und dann wieder zurückgeschickt. Am frühen Morgen ist er gestorben. Sie haben ihn auf einer Trage vorbeigeschoben, mit einer Decke über dem Gesicht. Der Fleischesser erklärte, dass er tot sein müsse, sonst hätten sie ihn nicht so zugedeckt. Jemand antwortete darauf, dass es so besser für ihn sei, weil er nun nicht mehr leiden müsse.
Und dann gibt es noch all meine anderen Brüder. Wenn ich bei ihnen bin, fühle ich mich wohler.
Sie leben schon lange so zusammen. Es hat sie überrascht, dass ich nur auf der Durchreise bin wie ein Tourist und mich schon bald wieder verabschieden will. Ich habe ihnen versprochen, zurückzukommen.
*
In der Eingangshalle warte ich auf Sabrya. Ich habe mich den ganzen Vormittag ausgeruht. Am Empfang stehen drei weitere Rollis um die Telefonistin herum, eine blonde Portugiesin. Sabrya kommt, sie trägt ein pastellfarbenes Kleid mit Blumenmuster, das bis knapp oberhalb ihrer runden Knie durchsichtig ist. Dazu beige Schuhe mit einem kleinen Absatz. Ein weißer BH-Träger blitzt auf ihrer gebräunten Schulter.
Ihre Haare sind straff nach hinten gezogen. Sie entdeckt mich sofort, lächelt den anderen zu, sagt allen mit ihrer kindlichen, fröhlichen Stimme guten Tag. Wir machen uns auf den Weg zum Park Buttes-Chaumont. Ich steuere meinen Elektrorollstuhl mittels eines Tennisballs unterm Kinn, der direkt mit dem Motor und den Hinterrädern verbunden ist. Sabrya geht rechts neben mir. Ich achte darauf, den Ball so gleichmäßig zu bedienen, dass sie immer an meiner Seite bleibt. Sie versprüht eine ansteckende Fröhlichkeit, ihre Haare glänzen in der Sonne. Sie lacht über meine Schmeicheleien. Wenn ich zu weit gehe, warnt sie mich mit einem Zwinkern, als würde sie mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Finger geben, die nicht mehr umherwandern können. Wir nehmen den unteren Eingang zum Park. Ich werfe den Kopf in den Nacken, blicke ihr in die Augen und sage eine verliebte Dummheit. Von Zeit zu Zeit stampft sie mit dem Fuß auf und ruft lachend: »Ach, hör auf!«, oder »Philippe, das reicht jetzt!«
Als wir anhalten, habe ich keine Schmerzen mehr. Ich fordere die entgangenen Küsse der letzten Tage ein. Sie gibt mir ganz sparsam je einen in die Augenwinkel. Endlich kommen wir oben auf dem Hügel des Parks bei einer Café-Terrasse an. Sie stellt ihren Stuhl genau neben meinen Rollstuhl und setzt sich so, dass sie zu mir hersieht. Unsere Gesichter sind ganz nah aneinander. Wir lassen uns durch nichts stören. Ein Kind mit Lockenschopf kommt vorbei, ohne uns zu beachten.
»Sabrya, ich habe dir etwas zu sagen. Nachher setzen wir uns unter einen Baum, ganz allein, und du hilfst mir, ja?«
Ihr Blick verdunkelt sich.
»Sag schon, Philippe.«
»Nein, nachher. Jetzt bin ich zu unruhig.«
Ein Kellner nimmt unsere Bestellung auf. Er stellt die Teller auf dem Tisch hinter uns ab, wir rühren nichts davon an. Wir sind in unsere Zärtlichkeiten, unsere Späße vertieft. Sabrya legt ihren Arm auf meinen. Dann will sie es wissen.
Wir setzen uns ein Stück abseits unter einen
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