Ziemlich beste Freunde
Baum. Weiter unten spielen Kinder auf dem Rasen, Schwäne gleiten gemächlich über den Teich, ein Blumenbeet erstreckt sich zwischen uns und dem Wasser. Ich habe den Ball unter meinem Kinn weggeschoben. Sabrya setzt sich auf meinen Schoß und legt den Arm um meinen Nacken. Behutsam gibt sie mir zu verstehen, dass sie mir von sich erzählen möchte. Sie errät, welches Thema mir auf der Seele brennt.
Sie erzählt mir von ihrer Kindheit in einem marokkanischen Dorf, von einem Vater, den sie hasst, wegen seiner Bösartigkeit, seiner Brutalität gegenüber ihrer Mutter. Oft ist sie zusammen mit ihrem kleinen Bruder weggelaufen, um ihn zu schützen, aber sie wusste, dass sie bei ihrer Rückkehr ihre Mutter in Tränen und voller Blutergüsse vorfinden würde.
Sabrya ist fünf. Ihre Mutter erwartet Zwillinge, sie ist im siebten Monat schwanger. Eines Abends spitzt sich die Situation mit dem gewalttätigen Vater dramatisch zu. Saadia hat Angst um ihre Kinder und flieht mit ihnen, mitten in der Nacht und mit nicht mehr als einem Koffer. Sie will zu ihrer Schwester nach Frankreich. Im Morgengrauen warten sie am Bahnsteig auf den Zug nach Casablanca. Der Vater entdeckt sie im fahlen Licht, stürzt sich auf seine Frau, wirft sie zu Boden und verprügelt sie. Sabrya weicht mit ihrem Bruder zurück, er schreit. Saadia fleht, dass man ihre Babys retten möge. Sie wird sie beide verlieren.
Noch jetzt weint Sabrya, wenn sie davon erzählt. Ihren Vater will sie nie wieder sehen. Sie hat Angst vor Männern.
Sie sagt mir, dass ich der Erste bin, der sie freundlich und respektvoll behandelt. Dass sie mir nicht wehtun und mich vor allem nicht verlieren will. Je länger sie redet, desto weniger wage ich, das Thema anzusprechen, das ich an jenem Abend im Restaurant erwähnt habe. Sie sucht einen Vater, und ich träume von einer Partnerin.
Ich mache einen zaghaften Versuch: »Sabrya, und wenn wir zusammenbleiben würden?« Sie löst den Arm von meinem Nacken und beugt sich ein wenig vor, mit starrem Blick, die Hände auf den Knien. Wenn ich mit ihr zusammen bin und mir das Herz brennt, dann vergesse ich, dass ich doppelt so alt bin wie sie und dass sie in mir nie einen Geliebten gesehen hat.
Ich muss daran denken, dass ich irgendwann sterben werde. »Ich werde mit Sicherheit fünfundsiebzig, was in unserer Familie von Neunzigjährigen wenig ist. Du könntest noch zu meinen Lebzeiten die Geburt unserer Enkelkinder erleben.« Ich sage ihr traurig, dass ich, wenn es nach meinem Herzen geht, auch warten kann. Aber was meinen Körper betrifft, kann ich für nichts garantieren. Die Schmerzen hüllen mich ein wie ein Mantel. Müde lege ich den Kopf an die Lehne. Sabrya steht auf, um mir die Augen zu trocknen, legt die Hände an meine Schläfen.
Es ist spät geworden. Die spielenden Kinder sind nach Hause gegangen, die Schwäne haben sich versteckt und die Blumen sind grau. Wir kehren ins Saint-Jean-de-Malte zurück. Sabrya hält meine rechte Hand, bis wir mein Zimmer erreichen. Sie hilft den anderen, mich ins Bett zu bringen. Dann bleibt sie noch einige Minuten auf der Bettkante sitzen, die Hand an meiner Wange. Ich danke ihr für alles, was sie mir gibt. Sie wird mich anrufen, am Montag wollen wir zusammen zu Mittag essen. Sie küsst mich auf die Stirn und schließt mir die Augen. Ich höre sie kaum hinausgehen. Die ganze Nacht halte ich die Augen geschlossen, ohne schlafen zu können. Eine qualvolle Nacht.
Im Dunkeln bewahre ich die Hoffnung. Ich warte auf die ersten Sonnenstrahlen und lasse mich ans Fenster schieben, damit sie meinen müden Körper wärmen können. Ich habe geträumt. Sabrya liegt nackt neben mir. Wir schauen beide in die gleiche Richtung. Sie rollt sich ganz klein zusammen. Ich stelle mir ihre warmen, weichen Schenkel vor, stelle mir vor, wie ich den Kopf in ihre hochgeschobenen Locken lege, die ihren zarten Nacken freigeben. Mit ihrem Duft, mit diesem Traum bin ich eingeschlafen.
Sie würde die uns verbleibenden gemeinsamen Jahre mit mir zusammenleben, wir würden eine Menge Kinder haben. Es würde bis ans Ende aller Zeiten dauern. Sie würde mit meinen Kindern sprechen, mit Laetitia lachen. Robert-Jean wäre ein bisschen in sie verliebt.
In meinem Traum habe ich sie glücklich gesehen mit diesem merkwürdigen Menschen aus einer anderen Welt.
Ich schließe die Augen zum Schutz vor der Sonne. Im sanften rötlichen Licht hinter meinen Lidern sehe ich sie an meiner Seite. Nicht als meine
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