Zigeunerprinz
ihnen ihr Prinz gegeben, dessen Ansprüche nicht leicht zu befriedigen waren.
Mara war wieder in Michaels Obhut gekommen. Falls ihm diese Pflicht lästig war, dann ließ er sich das nicht anmerken. Er führte sie mit einer leichten Berührung am Arm, einem geflüsterten Vorschlag auf ihrer geisterhaften Wanderung durch den Wald. Sie war dankbar für seine Fürsorge, und auch dankbar, daß nicht Roderic an ihrer Seite sie zum Chateau führte. In diesen entscheidenden Augenblicken zweifelte sie aus ganzem Herzen an seinen Zielen und an seinen Mitteln, sie zu erreichen. So sicher, wie das Morgenlicht die Nacht verbannen würde, so sicher hätte er ihre Zweifel gespürt.
Das wollte sie nicht. Sie wollte ihn nicht mißtrauischer ihr gegenüber machen, als er ohnehin war, und sie wollte keinesfalls den Versuch gefährden, ihre Großmutter in seine Hände zu bringen. Nachdem sie die Alternativen ausgiebig abgewogen hatte, hatte sie befunden, daß sie lieber in der Schuld des Prinzen stand als in de Landes'. Falls diese Entscheidung einen tieferen Grund haben sollte, dann wollte sie lieber nicht darüber nachdenken.
Die Mauern des Chateaus ragten hellgrau und massiv vor ihnen auf. Ein schmaler Streifen offenen Feldes lag zwischen ihnen und dem Schatten der Steine. Einer nach dem anderen huschten die Mitglieder das Kaders darüber und verschwanden im Schatten der Außenwand. Irgendwo rief trauernd eine Eule. Eine Maus quiekte im Stroh und war wieder still.
Dann waren Michael und Mara an der Reihe. Er nahm ihre Hand. Mit der anderen hob sie ihre Röcke. Gebückt eilten sie über die Lichtung, jeden Schattenfleck ausnutzend. Sie preßten sich an die Mauer und blieben keuchend stehen, um auf die anderen zu warten. Um sich herum konnten sie die geduckten Silhouetten der anderen ausmachen, die ihnen vorangegangen waren.
»Jetzt, meine Freunde«, sagte Estes leise, als sie sich alle unter der Mauer versammelt hatten. Wie auf ein Zeichen hin versammelte sich die Truppe um ihn, gruppierte sich, kletterte einer auf den anderen, bis sie eine Menschenpyramide errichtet hatten, so mühelos, als wären sie in der langen Galerie des ruthenischen Hauses.
»Hoppla!« war ein unterdrücktes Flüstern zu hören, als sie fertig waren und schwankend in der schnell weichenden Dunkelheit standen.
Roderic, der abseits gewartet hatte, drehte sich um. Er machte ein paar schnelle Schritte und kletterte dann die praktische Leiter hinauf, die sie darstellten. Sie endete kurz unter den Zinnen. Der Prinz überwand mit einem Sprung die letzten Zentimeter und klammerte sich mit der Hand am oberen Gesims fest. Seine geübten Muskeln anspannend, zog er sich auf den Sims hoch. Er setzte sich, machte eine schnelle, kurze Geste und wartete.
»Jetzt Sie, Mademoiselle«, rief der Italiener rauh flüsternd.
»Was? Der Prinz wird doch bestimmt das Tor öffnen können?«
»Wenn nicht, dann müssen Sie bei ihm sein, um die Alte zu beruhigen. Schnell. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Richtig, die hatten sie nicht. Jede Sekunde der Verzögerung vergrößerte die Gefahr, entdeckt zu werden. Mara fluchte leise, aber höchst undamenhaft und begann, die menschliche Leiter zu erklimmen. Ihr Zorn verlieh ihr die nötige Kraft und den Willen, die Schultern der zuoberst Stehenden zu erreichen. Dann richtete sie sich langsam auf. Roderic reckte sich ihr entgegen. Sie zögerte nur einen Moment und hob dann die Arme.
Ihre Handgelenke wurden von Händen umklammert, die so gnadenlos zufaßten wie Handschellen. Sie wurde hochgezogen. Ein Arm umschlang ihre Taille und stützte sie, bis sie Halt gefunden hatte. Einen kurzen Augenblick war sie sich eines harten Schenkels und der kantigen Degenscheide unter sich bewußt, dann wurde sie halb über die Mauer geschubst und halb geschwungen. Bevor sie protestieren oder überhaupt erraten konnte, was er vorhatte, ließ er sie in seine Arme sinken und hielt sie so den Bruchteil einer Sekunde bis sie sich dem Boden entgegengestreckt hatte. Dann ließ er sie los.
Sie landete in einem würdelosen Haufen. Einen Augenblick später rollte sie seitwärts ab, während Roderic neben ihr landete. Sie öffnete den Mund, um wütend seine Klettermethoden zu kritisieren, schloß ihn aber wieder, als sie einen Ruf hörte.
»Wer da?«
Roderics einzige Antwort bestand im Scharren der Degenklinge, die er mit einer Hand zog, während er mit der anderen Mara hinter sich schob. Die Schloßwache wich zurück, um Hilfe zu rufen und ebenfalls den
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