Zigeunerprinz
hatte sie den Eindruck, daß sie eine Probe bestanden hatte. Das Gefühl war ihr unangenehm, da es sie an jene ersten Tage mit seinem Sohn erinnerte, als sie gezwungen gewesen war, auf jedes Wort, jede Geste zu achten. Der König war subtiler vorgegangen, vielleicht hatte sie auch einfach weniger Grund, auf der Hut zu sein. Wie dem auch war, sie war dankbar, daß sie nichts davon geahnt hatte.
Anscheinend waren dem Kutscher die Anweisungen bereits zuvor gegeben worden. Statt das kurze Stück heimwärts zu fahren, lenkte er die Pferde in Richtung Stadtmitte. Sie hatten sich ihren Weg durch die Nebengassen gebahnt, den typischen Pariser Geruch von geröstetem Kaffee und Weinschänken eingeatmet, von Tabak aus den Läden und von altem Stein, altem Mobiliar und alten Abwässerkanälen.
Jetzt bogen sie auf die Champs-Elysees. Die Boulevardiers, Männer, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, die lange, gerade Fahrstraße auf und ab zu promenieren und die Damen in den vorbeifahrenden Kutschen zu begutachten, lüpften die Seidenzylinder vor ihr. Eine Reihe glänzender Kutschen, »Victorias« genannt, seit die englische Königin Victoria sich dafür begeistert hatte, glitten mit heruntergeklapptem Verdeck vorbei, so daß die Damen, Comtessen wie Kurtisanen, die sich mit fransenbesetzten Schirmen vor den Sonnenstrahlen schützten, bei ihren Vergnügungsfahrten durch das milde Wetter beobachtet werden konnten. Unter den kahlen Kronen der Bäume, von denen die Avenue gesäumt wurde, standen weissagende Zigeuner, ein Drehorgelspieler mit seinem Affen, ein Mann mit dressiertem Hund und ein Musikantentrio, das hoffnungsfroh einen umgedrehten Hut vor sich aufgestellt hatte.
Da sie allein mit König Rolf und anscheinend auch in seiner Gunst war, schien es jedoch eine günstige Gelegenheit, eine Frage zu stellen, die sie schon lange beschäftigte.
Sie atmete tief ein und sagte: »Können Sie mir sagen, Majestät, warum Roderic in Paris ist?«
»Natürlich. Er ist das Bollwerk meines Informationsdienstes, sein stärkstes und zuverlässigstes Glied.«
»Ihres?«
»So hat es angefangen, und so ist es noch immer, auch wenn er sich seit einigen Jahren aus eigenen Gründen in die europäische Politik mischt.«
»Wenn das so ist, dann - dann hatten Sie sich gar nicht entzweit, bevor er hierherkam?«
»Entzweit nicht, aber das bedeutet nicht, daß wir einer Meinung gewesen wären.«
Sie bedachte das lange. »Darf ich fragen, weshalb Sie in Frankreich Informationen sammeln?«
Er blickte sie prüfend an, als würde er überlegen, ob es klug war, ihr zu antworten. Sein Urteil war schnell gefällt. »Die Stabilität jedes europäischen Landes ist von der Instabilität eines anderen betroffen. Es ist gut, wenn man weiß, wo der Unterbau am ehesten nachgibt.«
»Sie würden nicht - intervenieren -, um diese Instabilität zu verstärken oder abzuschwächen?«
Er zog eine Braue hoch und sagte leise: »Das würde ich nicht.«
»Dann müssen Sie gewußt haben, was Roderic tat, während er hier war, Sie müssen auch andere Informationsquellen haben, sonst hätten Sie nicht von mir erfahren und wären jetzt nicht hier. Wenn dem so ist, warum zürnen Sie ihm dann so?«
Statt auf ihre Frage zu antworten, sagte er: »Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich unter den gegebenen Umständen noch Sorgen zu machen.«
»Es ist ... keine Freundlichkeit.« Sie schaute weg, auf die Straße.
»Welch eine Freude. Und welch ein Verstand. Ich war, vielleicht, ein Tor, aber ich habe es gut gemeint.«
»Wie bitte?« Die Miene des Königs war abweisend, und er antwortete nicht.
Die Tage wurden wieder grau, und kalter Regen fiel. Woche um Woche dauerte das trübe, kalte Wetter an. In der langen
Galerie, wo sich die Truppe die Langeweile vertrieb, hörte man das Scharren und Scheppern der Degenklingen. Königin Angeline begann, in bester höfischer Tradition, mit der Arbeit an einem Teppich, einer Jagdszene mit berittenen Jägern, einem Zigeunerlager im Hintergrund und tausend Blättern am Rand, die einen weiten Wald symbolisieren sollten. Sie stickte stundenlang im Privatsalon der königlichen Gemächer. Manchmal half ihr Mara und nahm einen Teil der großen Leinwand auf ihren eigenen Schoß. Auch Juliana stickte oft mit, aber selten über längere Zeit hinweg. Sie war zu unruhig, um lange stillzusitzen.
An einem besonders grauen Morgen hielt Mara auf dem Weg von ihrem Zimmer zu den königlichen Gemächern inne, um den Geräuschen eines
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