Zigeunerprinz
Haares fielen ihm in die Stirn, und sie mußte ihre Hände im Schoß zusammenpressen, um sie nicht zurückzustreichen. Sie roch sein frischgestärktes Leinenhemd und das leichte Sandelholzaroma seiner Seife, und es kam ihr vor, als würde seine Körperwärme sie über das breite Brokatpolster zwischen ihnen erreichen. Was er sagte und seine Nähe machten sie ein bißchen schwindlig, so als hätte man sie im Kreise gedreht und dann losgelassen. Sie konnte sich nur einen Grund zusammenreimen, aus dem er geschlossen haben konnte, daß sie ihm nicht traute, und obwohl es ihr schwerfiel, das in Worte zu fassen, wollte sie ihn vom Gegenteil überzeugen.
»Wenn Sie glauben, daß - daß ich mich in den letzten Wochen davor gefürchtet habe, auf Ihre Aufforderungen zu reagieren und zu Ihnen zu kommen, dann sollten Sie wissen, daß —«
»Meine liebe Mara, es gab keine Aufforderungen. Nicht wegen jenes Kolosses, den ich meinen Vater nenne, oder wegen seiner Unverschämtheit, sondern weil ich, eine einzige Nacht ausgenommen, fühlte, daß Sie etwas Besseres verdienen.«
»Eine?« murmelte sie.
»Worüber lächeln Sie wie Circe am Strand?«
»Eine Nacht, in der ich Sie und Ihren Vater im Treppenzimmer streiten hörte.«
»Daß wir uns im Morgengrauen auf der Hintertreppe zanken, ist, das gebe ich zu, amüsant, aber, quid pro quo, kein Schuldbekenntnis des einen oder anderen.«
»Ich bitte um Verzeihung. Und was verdiene ich, Ihrer wohlbegründeten und hoheitsvollen Meinung nach?«
»Oh, natürlich einen echten Märchenprinzen, voller schmachtender Blicke und männlicher Grazie, der einen langsamen und vollkommen verzückenden Balztanz aufführt.«
Warum konnte er nicht deutlich sagen, was er meinte? Doch es gab keine Gelegenheit, tiefer in die Materie einzudringen, da Grandmere in diesem Augenblick nach Mara rief und sie zu ihr gehen mußte. Mara blieb mit der Frage allein, ob Roderic sich selbst oder einen abstrakten Märchenprinzen gemeint hatte, einen Mann, der ihr in gesellschaftlich korrekter Weise den Hof machte und sie schließlich heiratete. Wies er sie am Ende gar ab? Sie konnte nicht glauben, daß er vorhatte, alles zu ignorieren, was zwischen ihnen vorgefallen war, und noch einmal von vorn anzufangen, also mußte es sich um letzteres handeln. Er hatte sich große Mühe gegeben, ihr anzudeuten, daß er zum Teil die Verantwortung für seine eigene Verführung übernahm, daß er begriff, was sie zu einem für sie so unnatürlichen Akt getrieben hatte, daß er wahrlich keinen Groll gegen sie hegte und daß er ihr alles Gute wünschte. Das war alles. Das zu wissen war kein Trost.
Die Bankette der Reformisten fanden weiterhin statt. Die Ansprachen, die jene politischen Mähler begleiteten, wurden hitziger. Ganz offensichtlich würde nur eine radikale Veränderung die Volksaufhetzer zufriedenstellen. Sie verlangten das sofortige Ende der absolutistischen Monarchie und freie Wahlen für alle Bürger. Es gab wütenden Widerstand gegen Louis Philippes konservativen Minister Guizot, der das Land nicht von seinem gegenwärtigen, erniedrigenden Kurs abbringen wollte. Die englische Regierung, erbost über die ihrer Ansicht nach verräterische Allianz zwischen Frankreich und Spanien, die im Vorjahr durch Heirat geschmiedet worden war, tat ihr Bestes, um den Volkszorn anzuheizen. Die Legitimisten schütteten Öl ins Feuer, ebenso wie die Bonapartisten, beide in der Hoffnung, daß sich in den Wirren des Umsturzes eine Gelegenheit bieten würde, ihren jeweiligen Kandidaten die Krone zu erobern.
In Frankreich gor der Unfriede wie junger Wein im Faß. Die gelben Zeitungen druckten skurrile Karikaturen des Königs und seiner Minister und lobpriesen Lamartines Reden. In den Provinzen gab es Aufruhr der Lebensmittel wegen und in den Nebenstraßen von Paris spontane Versammlungen, die in Märschen unter der roten Flagge endeten. Die Kutsche eines reichen Kaufmanns wurde vom Mob umgestürzt und der Mann halbtot geschlagen. Andere Protestmarschierer begannen, nachdem man in das Warenhaus eines Weinhändlers eingebrochen war, zu plündern, brandschatzten mehrere Läden und warfen in einem der vornehmen Viertel nahe dem Faubourg Saint-Germain Fenster ein.
Im ruthenischen Haus, im Empfangssalon, wurde die sich verschärfende Lage zum wichtigsten Gesprächsthema, sobald sich mehr als zwei Leute versammelten. Manche schoben die Schuld dem König von Frankreich zu, einem Mann, der zugegebenermaßen nichts falsch, allerdings auch nichts
Weitere Kostenlose Bücher