Zigeunerprinz
müssen.«
»Er trug die geeignete Kleidung dazu - Sie nicht.« Aber ihre Worte klangen nicht hitzig. Sie wollte selbst erfahren, was da vor sich ging. Alle Menschen schienen dem Fluß zuzustreben. Wenn sie sich richtig orientierte, dann würden sie nach einiger Zeit die Seine auf der Pont Royal überqueren, direkt bei dem Place de la Concorde. Dort hatte Lamartine auf dem Reformistenbankett sprechen sollen, das vom König untersagt worden war.
Der Wind frischte auf, wurde kälter. Er zupfte an ihren Mänteln, schlug sie um ihre Körper und ließ Tränen in Ma-ras Augen steigen. Sie hatten keine Laterne und stolperten über die unregelmäßigen Pflastersteine. Maras weiche Lederpumps waren dazu gedacht, im Haus getragen zu werden; sie waren keineswegs für ausgedehnte Märsche geeignet, erst recht nicht auf so spitzen Steinen. Sie würde sich nicht beklagen. Sie war frei, nicht mehr an Händen und Füßen gefesselt und in einen sauer riechenden Raum gesperrt. Sie war bei Roderic in der frischen Nachtluft. Und wenn nun andere Schatten über ihr hingen, wie konnte sie ihnen besser entkommen, als wenn sie vor ihnen davonlief?
Die Straßen in der Nähe der Brücke waren belebter. Die Atmosphäre erinnerte fast an einen Karneval. Menschen lehnten in den Fenstern und unterhielten sich quer über die Straße. Straßenverkäufer boten heiße Maroni und warme Fleischfladen, kandierte Früchte und Veilchensträuße feil, und der Drehorgelmann mit seinem Affen spielte an einer Ecke. Dennoch hörte man über allem die Rufe: «Vive la reforme! « und »Nieder mit Guizot!« und jenen alten Schlachtruf aus einer anderen Revolution: »Liberte, egalite, fraternite! «
Von der Brücke aus sah man die Versammlung auf dem Place de la Concorde. Fackeln und Laternen blinkten wie Glühwürmchen und warfen geisterhafte Schatten auf den großen Steinschaft des Obelisken, der Louis Philippe vom Vizekönig Ägyptens, Mohammed Ali, zum Geschenk gemacht worden war. Die Menge zählte mehrere Hundert, und der Lärm ihrer Stimmen dröhnte wie entferntes Brüllen.
»Was machen sie?« fragte Mara, als sie näher kamen. Sie konnte nicht über die Menge hinwegsehen, aber eine dichte schwarze Rauchwolke rollte durch die Luft, die anscheinend nichts mit den vereinzelten Fackeln zu tun hatte.
»Lamartine versucht zu sprechen. Ein paar hören ihm zu. Die übrigen verbrennen die Sessel aus den Tuilerien in einem Freudenfeuer.«
»Was? Aber warum denn?«
»Zweifellos war ihnen kalt.«
Die Menge teilte sich in diesem Augenblick, so daß sie bis zur Fassade des Tuilerien-Palastes sehen konnten. Männer kamen aus dieser Richtung angelaufen, Stühle über den Kopf haltend wie eine Kriegsbeute. Während sie hinschaute, zersplitterte ein Fenster im Obergeschoß in glitzernde Scherben, und der Thron Louis Philippes flog heraus. Jubel stieg auf, dann ergriff man den Thron und warf ihn ins Feuer. Daß der Thron und die Stühle, die zum Großteil die Revolution und alles Folgende überstanden hatten, in dieser Nacht mutwillig zerstört werden sollten, erschien ihr wie ein Sakrileg.
»Frankreich sollte dankbar dafür sein, daß Betten und Schränke schwerer sind«, kommentierte sie.
Wieder war das atonale Klirren zerspringenden Glases zu hören, diesmal aus der Richtung einer Seitenstraße, in der sich Läden aneinanderreihten. Roderic wandte geschwind den Kopf in jene Richtung. »Ich glaube, sie wenden ihre Aufmerksamkeit jetzt anderen Dingen zu. Ich habe genug gesehen. Gehen wir.«
»Was ist mit Michael?«
»Er wird allein zurechtkommen.«
Sie bahnten sich den Weg zurück durch die Gärten der Tuilerien, weg von den kreischenden, reißenden Geräuschen aufgebrochener Türen und den Schreien der Plünderer. Die Menschen drängten sich immer noch unter den blattlosen Bäumen und zwischen den beschnittenen Sträuchern, bewegten sich aber weniger zielgerichtet. Ein Taschendieb, den man bei seinem Handwerk ertappt hatte, wurde an ihnen vorbeigejagt. Ab und zu sah man Liebespaare, die das allgemeine Durcheinander nutzten, um sich in den immergrünen Lauben zu küssen.
Die Straße zwischen der Seine und dem Louvre war dunkel und verlassen. Roderic legte eine Hand auf seine Pistole und hatte alle Sinne angespannt. Das alte, riesige Schloß ragte zu ihrer Linken auf, und seine Myriaden von Fenstern und Türen schienen sich ewig hinzustrecken. Hier war einst das Heim der französischen Könige gewesen, hier waren die Herrscher in aller Pracht durch die
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