Zigeunerprinz
etwas sagen.«
»Nicht jetzt. Wir haben es noch nicht ausgestanden«, antwortete Roderic über die Schulter hinweg.
»Es ist wichtig!«
»Am Leben zu bleiben hat einen mindestens ebenso großen Wert wie hartnäckiger Charme.«
Er hatte gehört, was Mara und Michael während ihres Wortwechsels entgangen war, das tiefe Rumoren einer entfernten Menschenmenge. Langsam, wie Wogen an einem Meeresstrand, kam das Geräusch näher. Die Straße war schmal und baumbestanden. Das Licht der Fackeln und Laternen, welche die Demonstranten bei sich trugen, schien vor ihnen durch den gewundenen Straßenlauf, beleuchtete die Ladenfronten mit den Mietsräumen darüber und glänzte auf dem nackten Geäst. Erst als Mara das durchdringende Gleißen bemerkte, wurde ihr klar, daß sich die Nacht wie eine dunkle Wolldecke über sie gesenkt hatte.
»Michael, du wirst dich unter die Leute mischen und herausfinden, wer sie sind und wohin sie gehen.«
Bisweilen entledigte sich die Truppe ihrer Uniformen, wenn es galt, auf Roderics Anweisung hin in der Stadt und auf dem Lande Erkundungen anzustellen. An diesem Tag mußte Michael einen solchen Auftrag gehabt haben, denn er trug einen unauffälligen Rock und ebensolche Hosen zusammen mit einer verblichenen Weste unter seinem Umhang. Als er den Befehl seines Prinzen vernommen hatte, warf er den Umhang ab, übergab ihn Roderic und zog eine Kappe aus seiner Tasche. Er setzte die Kappe auf, schob die Hände in die Taschen und schlenderte scheinbar vollkommen sorglos die Straße hinab.
Roderic warf sich Michaels Mantel über, um das leuchtende Weiß seiner Uniform zu verbergen, dann legte er eine Hand auf Maras Arm und verschwand in den tiefen Schatten eines Hauseingangs.
Die Menge kam näher. Ein paar rote Banner wehten darüber, handgemachte Stoffstreifen. Obwohl sich ein paar Studenten aus der Universität und der Ecole Militaire darunter befanden, schienen die meisten Handwerker und Arbeiter zu sein, die immer noch in ihre Lederwesten und Schürzen gekleidet waren und Hämmer sowie andere Werkzeuge mit sich trugen. Unter den Männern waren auch ein paar Frauen mit im Fackelschein leuchtenden, entschlossenen Gesichtern. Rufe und Lachen erschollen, als sie näher kamen, und hin und wieder stimmten sie ein Lied an. Sie schienen nicht wütend oder gewalttätig zu sein, und doch klangen ihre Stimmen trotzig und selbstbewußt. Sie marschierten ohne Unterlaß mitten auf der Straße.
Sie zogen an Maras und Roderics Versteck vorbei, und die Schritte auf dem Pflaster klangen dumpf und hohl zwischen den hohen Häusern. Sie überholten Michael, und nach einem Scherz und einer kurzen Frage gesellte er sich zu ihnen. Sie zogen ihn mit sich, so wie ein Fluß Treibgut in seinem Lauf aufnimmt.
Als die Geräusche verhallt und die Nacht wieder ruhig war, trat Roderic auf die Straße, und Mara folgte ihm. Sie wandten sich in die entgegengesetzte Richtung derer, die Michael und die Menge eingeschlagen hatten. Sie waren nicht einmal hundert Meter weit gekommen, als sie an einer Querstraße eine weitere Menschengruppe auf sich zukommen hörten. Die Schreie und Fluche, die in den Nachthimmel geschleudert wurden, klangen zornig. Obwohl die Menge wesentlich kleiner war, schien sie gefährlicher.
»Der Garten«, meinte Roderic, »dort drüben.«
Sie huschten an einem Gebäude aus dem allgegenwärtigen, von Schmutzstriemen überzogenen Stein vorbei und zu dem schmiedeeisernen Zaun dahinter, schlüpften dann durch ein hohes Tor. Im Garten gab es mannshohe immergrüne Sträucher und ein Netz von Kieswegen. Mara, die vor Roderic herlief, bog um eine Ecke, blieb schnaufend stehen und streckte die Hand aus, um Roderic vom Weiterlaufen abzuhalten. Vor ihr stand ein riesiger Kerl, eine dunkle Gestalt mit erhobener Hand, die sich vor der helleren Dunkelheit abzeichnete. Einen Augenblick später seufzte sie schaudernd. Der Mann trug eine römische Toga, die sich kein bißchen im schwachen Nachtwind bewegte. Es war eine Marmorstatue.
Sie verharrten reglos, wo sie waren, bis sie sich wieder auf die Straße wagen konnten. Als sie aus dem dunklen Garten traten, starrte Roderic dem entschwindenden Menschenzug nach. Er faßte nach Maras Hand und eilte dem Zug mit einem einzigen Wort nach. »Schnell.«
Sie verfolgten ihren Weg zurück, bewegten sich in die falsche Richtung. »Was haben Sie vor?« fragte sie atemlos, da er sie so schnell weiterzog.
»Ich habe Michael mit einer Aufgabe betraut, die ich selbst hätte ausführen
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