Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Kastro herum und beobachtete mich bei meiner Bettelarbeit unter den freundlichen barmherzigen Huren. Ich sah mich in diesem absonderlichen Ozean um mein Leben schwimmen. Ich schweifte sogar noch weiter zurück, bis zu meinem Leben auf Vietoris. Nie zuvor war ich so weit in die Vergangenheit auf Geistertrip gegangen. Ich schaute auf mich selbst hinab, wie ich an der Seite meines Vaters am Hang des Mount Salvat stand und über uns der funkelnde Zigeunerstern am Firmament hing.
Dann wollte ich meinen Vater wiedersehen, um herauszufinden, wie es ihm ergangen war, nachdem mich die Firma als Sklaven in die Fremde verkauft hatte. Doch ich konnte ihn nicht finden, obwohl ich Vietoris von einem Ende zum anderen durchstreifte. Meine gesamte Familie war fort. Ich glaubte schon, mir fehlte es irgendwie an der rechten Spukfertigkeit, dass ich vielleicht noch nicht gelernt hatte, was man alles braucht, um ganz bestimmte Personen in Raum und Zeit aufzuspüren. Und es war natürlich die einfachste Erklärung dafür, dass ich meinen Vater nirgendwo finden konnte, wenn ich mir die Schuld daran selbst zuschrieb.
Dann wurde ich kühner. Ich besuchte Welten, die ich zuvor nicht gekannt hatte: Duud Shabeel, Kalimaka, Fenix, Clard Msat. Sie wurden für mich Wirklichkeit, und Alta Hannalanna war nur ein Traum. Ich steckte mitten in einem Wurm drin und hackte auf sein Fleisch los, und innerhalb der nächsten Sekunde würde ich für Stunden verschwinden und auf Estrilidis, Iriarte, Xamur sein. Und bei meiner Rückkehr hatte nichts sich verändert: ich hatte noch immer die Hand zum Zuschneiden erhoben, dann stieß das Krummesser zu. Manchmal katapultierte ich mich in diesem selben Moment schon wieder fort. Es war genauso einfach, hundert Jahre in die Vergangenheit zu wandern wie nur einen Monat. Ich zog in immer ausgedehnteren Zeitschlaufen dahin, schleuderte mich in die Vergangenheit hinein, und es war mir vollkommen gleichgültig, was für Folgen das haben mochte.
Einmal konzentrierte ich die Spukkraft und schickte mich selbst auf den Weg, ohne auch nur daran zu denken, wohin ich geraten könnte. Was lag auch schon daran? Jeder Ort konnte nur besser sein als Alta Hannalanna. Die vertraute Benommenheit, der bekannte Orientierungsverlust stellten sich ein, und dann plötzlich erblickte ich einen blauen Himmel, kompakte weiße Schäfchenwolken, eine gelbe Sonne. An welchem Ort war ich da? Niedrige Bäume mit breiten Kronen und braunen Stämmen und grünem Laub, eine Wiese mit dichtem grünen Gras, und Männer und Frauen, die sich um einen gewaltigen Kessel scharten. Die Männer trugen Plüschwesten, Reithosen aus Samt, lange schwarze Mäntel und blitzende wadenhohe Stiefel. Die Frauen trugen Kleider aus Seidensatin mit losem Oberteil, so dass ihre Brüste sichtbar waren, bunte Umhangtücher und federbesetzte Turbane. Drei, vier jüngere Frauen sangen und schlugen auf Schellentrommeln. Die Männer klatschten in die Hände und stampften den Takt mit den Beinen. Ein großes zottiges braunes Tier, das an einem Pfosten angebunden war, tanzte ebenfalls und schwankte komisch auf den mächtigen Hinterbeinen her und hin. Ich wusste sofort, wo ich war, und diese Erkenntnis betäubte mich. Wo sonst konnte ich sein als auf der langverlorenen, der lange toten Erde? Und was sonst sollten diese Menschen sein als eine kumpania von Zigeunern auf der Reise? Wie schön sie waren, wie lebensvoll, wie stark! Ich schwebte durch ihr Lager, hörte sie einander in einer Sprache zurufen, die ich nur bruchstückhaft verstand, die aber ohne jeden Zweifel eine uralte Form von Romani war, und ich spürte in mir eine Freude, die mich ganz und gar aus meinem Elendsgefühl heraushob und mich in jubelnde Höhen fortriss.
Und danach, als mir bewusst geworden war, dass ich meine Geistreisen sogar bis zu der fernen Vergangenheit der Erde ausdehnen konnte, begab ich mich oft dorthin, weil ich hoffte, dort meinen Leuten wieder zu begegnen. Und oft geschah dies auch; doch es sollte lange dauern, ehe ich sie wieder in solch ausgelassener Fröhlichkeit sehen sollte. Vielmehr erblickte ich mein Volk eng zusammengekauert unter löcherigen Behelfsdächern im kalten Regen, und sie trugen nichts am Leib als ein paar alte Kleiderfetzen. Ich sah sie in Gefängnislöchern eingepfercht, in erbärmlichen Holzhütten ein elendes Leben fristen, während grunzende und knurrende Wächter mit Peitschen in der Hand zwischen ihnen umherstolzierten. Ich sah sie, wie sie sich in den Wäldern von
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