Zigeunerstern: Roman (German Edition)
zu, entwand ihm die Peitsche und sagte: »Jetzt sollst du deine Seele verbluten.« – Denn es gibt vielerlei Blut, und ich habe es in allen Formen gesehen.
Aber es war noch immer nicht vorbei. Alle meine ehelichen Weiber zogen in einer feierlichen Prozession an mir vorüber: jene, die ich geliebt hatte, und die anderen, bei denen dies nicht der Fall gewesen war … Esmeralda und Mimi und Isabella und Micaela … und noch ein paar weitere, die ich so ziemlich vergessen habe; und ein paar Frauen, die mir nicht ehelich gehört haben, aber gänzlich ohne Schuld meinerseits. So umarmte ich wieder meine verlorene Malilini – die meine erste und wahrhaft große Liebe war. Und Mona Elena, meine verbotene Gaja-Liebe. Und die goldene und treulose Syluise. Freunde tauchten auf, und ich zog sie an meine Brust: Polarca und Valerian und Biznaga. Hunderte fremdartiger Landschaften tanzten durch mein Gehirn. Welten mit Ringen am Firmament, Welten mit vielen Sonnen und ganz sonnenlose Welten. Meine Güte, was war das für eine Vision! In mir steckten einhundertzweiundsiebzig Jahre voller Gespenster, und jetzt trieben sie sich alle gleichzeitig wild umher. Wie es sich für einen anständigen Rom gehört, war ich überall gewesen, hatte alles gesehen und hatte alles Lebendige in mich aufgenommen, und es lebte in mir – und jetzt passierte mir das alles gleichzeitig … denn Wörter wie ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ sind ja bloße Auswüchse der Blödheit und Denkunfähigkeit der Gaje. Wirklich und wahrhaftig! Weil nämlich alles, was ist, jetzt ist. Jetzt starre ich die Nordlichter an, die über den Mulanohimmel zucken, und jetzt wate ich durch die blütenduftenden Wiesen auf dem Stern der Roma, und jetzt stehe ich auf dem Platz der Tausend Säulen in Atlantis, und jetzt schreite ich auf den Thron des Fünfzehnten Kaisers zu, und jetzt lasse ich die Wetzsteine den Schwertern der fränkischen Kreuzfahrer Biss geben, die am nächsten Morgen den Sarazenen Jerusalem entreißen wollen, und jetzt sitze ich auf dem Goldplaneten Galgala in der Mitte des Königlichen Rates der Roma, und an meiner Seite sitzt die alte Bibi Savina, meine phuri dai, und jetzt bin ich mit meinem Vater in der Stadt Vietorion, und er zeigt mir einen roten Stern am Himmel. Und manchmal ist meine hohe Geliebte Syluise bei mir, manchmal ist es eine andere oder ein anderer. Manchmal bin ich allein. Ich sehe Tempel aus Kristall und Brücken, die das Firmament überspannen. Und die Visionen nehmen kein Ende. Tausendmal tausend Seelen drängen sich in mir: Rom – Seelen, Seelen von Gaje, die Seelen von Kreaturen, die überhaupt nicht als ›menschlich‹ zu bezeichnen wären … aber sie gehören alle zu mir, in mich, sind mein. Es gibt unendlich viele Welten, und ich bin überall. Ich winde mich im Schlamm, und ich schwinge mich zwischen die Sterne auf. Und es erhebt sich ein wundersames Gelächter – und es erfüllt dröhnend alle Himmel, so dass kaum noch Raum bleibt für etwas anderes. Und ich bin es, der da lacht.
Ich fand mich ein paar hundert Meter von meiner Eisblase entfernt wieder, und um mich herum kreisten wie zornige Insekten überall Schwärme von Mulanogespenstern. Wahrscheinlich hatte ich dermaßen viel Energie abgegeben, dass ihr ganzes Volk einen ganzen Ortsmonat lang davon satt werden konnte.
Chorian wedelte die Gespenster vorsichtig beiseite und kam ganz dicht mit dem Gesicht an das meine heran. »Yakoub? Kannst du mich hören, Yakoub?«
»Ja, was denkst du denn? Selbstverständlich hör ich dich, mein Junge.«
»Ich hab nicht gewusst, was mit dir los ist. Ich hab schon gedacht, du gehst auf eine Geistreise.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Kleiner, ganz anders. Die Gespenster kamen zu mir gereist. Und das ist was ganz anderes.«
»Das versteh ich nicht …«
»Musst du auch nicht. Unser Abendessen ist fertig. Also gehen wir jetzt hinein und genießen das versprochene königliche Festmahl.«
6
Der Junge blieb noch weitere vier oder fünf Tage bei mir, und ich musste all die Zeit über seine ehrfürchtige Hingabe erdulden. Dieser Gesichtsausdruck hingerissener Anbetung, die gedämpfte respektvolle Stimme, die eifernde Weigerung, mich auch nur die kleinsten, einfachsten Dinge erledigen zu lassen, ohne dass er aufspringen und seine Hilfe anbieten musste – es wurde so schlimm, dass ich ihm am liebsten einen Tritt in den Hintern versetzt hätte, um ihn mit der Nase in die Realität zu stoßen.
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