Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Mulano hatte ich mir das Herumgeistern versagt. Nicht etwa, weil ich dafür zu alt gewesen wäre oder das Interesse verloren hätte; nein, mir erschien es einfach als wichtiger, dass ich hier in der Jetzt-Zeit verwurzelt blieb, als mich freizumachen und durch andere Zeitepochen zu streunen. Aber damit war natürlich keineswegs garantiert, dass nicht andere Epochen durch mich hindurchziehen konnten. Der Vergangenheit entrinnt man nicht. Entweder man besetzt sie als Geist, oder sie lädt dir ihre Gespenster auf den Nacken; und in dieser Nacht, in meiner plötzlichen Benommenheit angesichts der verwirrenden Borealauroren, da kippten die Wände der Zeit um, und ich wurde von einem millionenfachen Gestern in einer wilden blutroten Gischt fortgerissen.
»Yakoub, bist du in Ordnung?« Ich hörte die Stimme des Kleinen wie von weit her. »Yakoub? Yakoub?«
Urplötzlich hing die blaue Perle der Alten Erde inmitten einer vollkommenen, absoluten, ohrenbetäubenden Stille zwischen der einen und der anderen Sonne. Sie war das Stille in diesem lärmerfüllten Himmel, doch nachdem sie aufgetaucht war, konnte ich nichts anderes mehr ansehen. Selbst in den Tagen ihrer realen Existenz dürfte die Erde bei weitem nicht der schönste Planet des Universums gewesen sein, doch ihr plötzliches Erscheinen aus dem Nirgendwo, vor meinen Augen, ihr uraltes kühles Blau – das war dermaßen wundervoll, dass mich der Anblick unentrinnbar in Fesseln schlug.
»Was siehst du da, Yakoub? Was ist denn da?«
Natürlich war es nicht wirklich die Erde. Es war nur das Gespenst der Erde. Glaubt ihr etwa, nur Leute wandern als Gespenster im Kontinuum umher? Nein, nein, auch Planeten haben ihre Geistmaterialisationen. Der Unterschied ist nur, dass Menschen ausschließlich in einer Richtung durch die Zeit gehen können, vom Jetzt in die Vergangenheit, während Gespensterplaneten sich in beide Richtungen bewegen können. Die Erde lag Tausende Jahre weit weg, und doch war sie jetzt hier und ergriff mich, über das halbe Milchstraßensystem hinweg. Es war wie ein exquisites Geschenk. Für mich, ganz für mich allein.
»He«, sagte ich. »He, du da, Erde! Schau her, Erde! Ich bin es, der Yakoub! Hier bin ich! Ich bin der, dem du erscheinen wolltest, du Erde!«
Es war ein Zauber. Ich vergaß Chorian vollkommen. Ich lachte und schwenkte grüßend die Arme zu diesem flirrenden blauen Planeten dort oben hinauf, und ich reckte die Arme hoch über den Kopf und schüttelte die Fäuste in den feurigen Himmel, und dann rannte ich auf das Eisfeld und fing an zu tanzen und zu springen. Mit zurückgeworfenem Kopf und hochgezogenen Schultern sang ich aus voller Brust unsere romanschen Liebeslieder an die Erde.
Das kommt euch vielleicht komisch vor. Warum sollte ich mich auch nur einen halben Furz um die Erde kümmern? Ich war nicht dort geboren, hatte niemals dort gelebt, ja, ich hatte sie nicht einmal je wirklich gesehen. Wie wäre das auch möglich gewesen? Sie ging ja schon lange vor meiner Zeit zugrunde. Auf Geistwanderungen hatte ich sie oft genug besucht, aber in meinem fleischlichen Körper war das natürlich völlig ausgeschlossen.
Aber ich liebte sie – auf eine eigenartige Weise.
Bedenkt einmal folgendes: die Erde war unsere zweite Mutter. Und vergesst es ja nie! Eine raue, strenge Mutter, aber sie hat uns gut erzogen. Der Stern der Roma mag uns das Leben geschenkt haben, aber es war die Erde, auf der wir geformt wurden, sie war die Schmiede, in der wir gehärtet wurden. Die Erde war für uns ein elendes Exil, und vielleicht hätten wir sie deshalb hassen sollen; doch wie hätten wir das hassen können, was uns stark machte? Auf der Erde wurden wir gestählt und fitgemacht für das Leben, das wir nun führen, wenn wir zwischen den Sternen umherziehen. Und dies war der Grund, warum ich vor der Erde tanzte und zu ihr sang und diese blaublaue Gespensterwelt pries, die von mir durch Jahrhunderte geschieden war und nun auf einmal dort oben stumm zwischen diesen beiden fremden Sonnen schwebte. »Hier bin ich«, brüllte ich. »Ich, Yakoub. Kennst du mich noch?«
»Du kannst die Erde sehen?«, flüsterte Chorian. Ihn konnte ich kaum wahrnehmen, er schien so weit fort zu sein. Nur seine Augen sah ich deutlich: sie schimmerten. »Wo ist sie? Zeige sie mir, Yakoub!«
Ich schaute die Erde, und ich sah noch vieles mehr. Es brach alles auf einmal über mich herein. Ich war wieder ein Jungsklave und schwamm durch den warmen lebenerfüllten Schlick von Megalo Kastro
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