Zigeunerstern: Roman (German Edition)
unserem Begriffsvermögen nicht zugänglich; ich sagte ihm, wir dürften, wir könnten nicht zur Zigeunersonne zurückkehren, ehe uns nicht ein Zeichen gegeben wurde, ehe der Ruf an uns erging, dass die Zeit gekommen sei.
Aber dann sagte ich: »Trotzdem ist es meine Absicht, mein Kleiner, dorthin zu gehen, ehe ich sterbe. Wozu, glaubst du, hätte ich sonst so lange gelebt? Ich habe mich durch einen Schwur gebunden. Für mich gibt's kein Auskneifen und Sterben, Junge, bevor ich nicht mit beiden Fußsohlen fest den Boden des Sterns der Roma berührt habe.«
Er warf mir einen seltsamen Blick zu. »Obwohl das ein Sakrileg wäre?«
Ich fuhr ärgerlich auf. »Was sagst du da? Ich kann nicht dorthin gehen, ehe nicht der Ruf erschallt, begreifst du das denn nicht? Aber der Ruf wird bald kommen. Das weiß ich, Chorian. Mir ist dazu absolut verlässliche Information zugängig. Und wenn der Ruf erschallt – im selben Augenblick, in dem er kommt …«
»Bist du als Erster zur Stelle.«
»Der Allererste, ja. Und werde den andern den Weg weisen. Denen von uns. Verstehst du jetzt?«
Er nickte. Er starrte in das schwarze Himmelsgewölbe hinauf. Die Luft auf Mulano ist kalt und klar, es gibt hier keine Städte, deren dunstige Lichterglocke die Sicht zum Himmel versperren könnte. Nie war ich auf einer anderen Welt, von der aus man den Zigeunerstern dermaßen leicht ausmachen konnte.
»Aber wenn es dort so wundervoll ist, Yakoub, warum sind wir dann jemals dort weggegangen?«
»Wir mussten«, sagte ich. »Eine kluge Mutter stößt ihre Kinder von sich, damit sie sich ihren eigenen Weg im Universum suchen, und die Sonne der Zigeuner war uns solch eine kluge Mutter.«
War das wirklich so? In diesem Augenblick, an diesem Ort, zweifelte ich plötzlich und fragte mich, ob das tatsächlich so gut gewesen sei. Uns aus unsrer Heimat mit einem flammenden Schwert zu vertreiben, uns Tausende von Jahren elendiger Wanderschaft aufzuerlegen – war das Klugheit, war das weise, was das mütterlich?
Ich hörte mir selber zu, dem glatten Gerede von der klugen Mutter, die uns von sich gestoßen hatte, und einen absurden, unbehaglichen Moment lang geriet meine feste Überzeugung von der sinnvollen Konstruktion unseres Geschicks ins Wanken und schwankte und wackelte und bebte bedenklich. Manchmal nämlich ist dieses ganze Herunterbeten alter Binsenweisheiten und alter Sprüche nichts weiter als ein Versuch, Ängste und Schmerzen und sogar grollende Verärgerung unter den Teppich zu kehren. Aber was du unter den Teppich fegst, um es los zu sein, hat die unangenehme Tendenz, irgendwo an einer Ecke wieder hervorzukriechen und dich zu stechen. Und das ist nicht nur so ein Sprichwort – es ist eine Lebenserfahrung.
Schön, schön, hinausgestoßen von deiner klugen Mutter. Na ja, sicher. Oder von unserem Vater. Die Roma-Sonne war unsere Mutter, und Gott war unser Vater, und diesem Gott waren wir aufgefallen, wie wir da so gemütlich und glücklich auf unserer Roma-Welt lebten, und da sagte ER zu SICH: Dieses Volk ist fett im Fleische und übermütig, diese Roma werden MIR zu träge und selbstgefällig. Sie werden überheblich. Sie vergessen immer mehr, dass dieses Universum doch wahrlich ein Teil der Tränen ist, ein gefährlicher Ort und eine Stätte der Gefahren, wo sie an jeglichem Tag, der ihnen gegeben ist, nur dank eines gewaltigen zufälligen Glücks ohne die eine oder andere entsetzliche Katastrophe überleben dürfen. Es ist ihnen zu lange zu gut gegangen, diesen Roma. Na schön. Sie fliegen mit einem Tritt in den Hintern hinaus. Da sollen sie dann lernen, wie das Leben in Wahrheit ist. Und genau dies veranlasste ER dann auch. Und wir haben seither nicht aufgehört, für unser ehemaliges Glück zu leiden und zu büßen.
Auf dem Planeten Erde gab es einst ein Volk unter den Gaje, das man die Juden nannte, und diese Leute glaubten doch tatsächlich, sie seien besonders auserwählt und die Lieblinge GOTTES. Und auch die verstieß ER mit einem Tritt in den Hintern, bloß um ihnen zu demonstrieren, dass ER keine bevorzugten Lieblinge habe, oder wenn ER schon so was hat, dass ER SEINEN Auserwählten das Leben noch verdammt viel unangenehmer machen kann, als ER das bei SEINEN Feinden gewöhnlich tut. Die beiden Märchen haben viel Gemeinsames, bis zu einem gewissen Punkt: Leiden, Verfolgung, elende Armut, Exil in der Fremde. Aber mit den Juden verfuhr ER nicht ganz so streng wie mit uns Roma. Aus ihnen machte ER Rechtsanwälte, Ärzte, Gelehrte
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