Zigeunerstern: Roman (German Edition)
und Professoren. Wir dagegen mussten Kesselflicker, Scherenschleifer und Wahrsager werden. Und was für eine Lektion war das überhaupt, die ER uns da beizubringen geplant hat? Immerhin, ein bisschen später scheint ER dann etwas milder gestimmt gewesen zu sein, denn ER erlaubte uns den Zugang zu einigen besser geachteten Berufen. Es gibt immer noch ein paar Juden in der Welt, aber ich glaube nicht, dass viele von ihnen Sternschiffpiloten sind. Und ich bin außerdem ziemlich sicher, dass auch keiner von denen König ist.
Na ja, vielleicht war die ganze Sache ja der Mühe wert, sagte ich mir. Die Hinausstoßung in die Fremde, ins Exil, die Wanderungen, die Leiden. Und so beantwortete ich mir meine Fragen selbst mit einem laut schallenden »Ja«. Natürlich hatte es sich gelohnt. Woher sollte ausgerechnet ich mir das Recht nehmen, mich zu beklagen? Da hatte ich diesen Chorian bei mir, der mich mit seinen hingerissenen Augen fast auffressen wollte, mich, den Weisen, den Mann, den alten König, die pure Verkörperung unserer Rasse … und dieser Junge bettelte mit seinen Augen unablässig: Sag es mir, sag es, sage es mir, Yakoub! Sag mir alles, unsere ganze große, gewaltige, wundersame Geschichte. Wie es alles so kam, wie es begann. Und da schämte ich mich tief, dass ich schwankend geworden war, und sei es nur für einen Augenblick, dass ich ärgerlich aufgemuckt, dass ich zu zweifeln begonnen hatte.
Und wie wir da weiter in der Dunkelheit und der Kälte standen, erzählte ich dem Jungen die alte Geschichte, die allerälteste von allen unseren Geschichten: die Geschichte vom Schwellen der Sonne. Genau wie mein Vater mir davon erzählt hatte, als wir vor langer Zeit auf dem Steilhang des Mont Salvat auf dem Planeten Vietoria in der Nacht standen. Und genau so, wie ich sie meinen vielen Söhnen über so viele Lebensjahre hin auf vielen anderen Planeten erzählt habe.
10
Ich redete von unserer großen Vergangenheit, von den wunderbaren Städten auf dem Roma-Stern, den schimmernden Palästen, den grandiosen Türmen, den weiten Boulevards, den großzügigen Alleen, den wie von innen leuchtenden Säulen, den hellen Plazas. Ich erzählte ihm, dass das Firmament über dieser Welt der Zigeuner unablässig und ewig brenne im Licht aller Himmel. Ich berichtete von den elf Monden, die sich wie funkelnde Edelsteine von Horizont zu Horizont spannten. Ich erzählte ihm von Flüssen, die funkelten wie junger Wein, von Bergen, die bis zu den Sternen ragten, von goldenen Wiesen und lichterflirrenden Seen. Und ich sprach von den schönen, glücklichen Menschen.
Dann erzählte ich dem Jungen, wie wir erfuhren, dass uns diese ganze schöne Pracht genommen und entrissen werden sollte. Zuerst baute sich die Mulesko Chiriklo, der Totenvogel, ihr Nest in der höchsten Zinne des Großen Tempels. Dann ertönte die Stimme einer Frau, die eine Totenklage in der Nacht sang, die in allen Städten zugleich gehört wurde. Und dann kam der Wind, der aus dem Süden wehte, wohin die toten Seelen ziehen, um dort zu leben, und er wehte ununterbrochen vierzehn Monde lang. Und danach kamen weitere unheilverkündende Vorzeichen: ein Jahr, in dem es keinen Sommer gab, und einen Tag, an dem die Sonne nicht heraufstieg, und eine Nacht, in der auf der ganzen Welt kein einziger Stern zu sehen war.
Wir konnten diese üblen Omina gar nicht deuten, denn wir hatten ja bisher auf dem Zigeunerstern nichts als Glückseligkeit gekannt. Nie zuvor hatte es Dürre gegeben, nie ein Erdbeben, niemals eine Überschwemmung, nie epidemische Seuchen. Die Jahreszeiten folgten brav aufeinander, und der Boden trug reiche Frucht. Es gab unter uns keine Krankheit, und wenn der Tod zu uns kam, dann geschah es sauber und schnell, wenn wir sehr reich an Jahren waren. Darum erging der Ruf nach weisen Frauen und Männern, als die bösen Omina sich zeigten, damit sie ihre Bedeutung für uns erklärten und übersetzten; und es kamen aus allen Gegenden der Welt die Weisen und versammelten sich auf dem Hauptplatz der Großen Stadt. Neunundneunzig Monde lang studierten sie und berieten sich und ersuchten ihre Götter um Erleuchtung und Leitung. Und dann, im hundertsten Monat, ließ der König sie alle in die Lange Kammer des Großtempels bringen und dort einschließen, und er ließ ihnen verkünden, dass sie weder Speise noch Trank erhalten würden, ehe sie uns nicht sagten, welches Unheil über uns kommen werde und wie wir uns dagegen schützen sollten; und neunzig-und-neun
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