Zigeunerstern: Roman (German Edition)
unabänderliches Schicksal Besitz von dir ergreifen und dich dorthin führen, wohin zu gelangen dir bestimmt ist. Darum geht es nämlich beim Schicksal und um nichts sonst.
Ich wusste, dass ich zum König bestimmt war, weil ein Geist, das Gespenst eines alten Weibes, sich mir zeigte und mir dies verkündete, als ich noch ein ganz kleiner Zigeunerjunge war. Natürlich wusste ich nicht, dass sie ein Geist war – und ich wusste auch nicht, was sie mir mitzuteilen versuchte. Aber dass sie wirklich da war, das wusste ich. Ich dachte zuerst, sie sei irgendwie ein Traumgebilde, das sich aus meinem schlummernden Bewusstsein gelöst hatte und nun ungebunden und klar sichtbar im Tageslicht umherwandere. Dies geschah in der Stadt Vietorion auf dem Planeten Vietoris, meiner heimatlichen Welt, einer der Welten in dem gewaltigen Sternenreich. Wie alt ich war? Wer weiß es? Vielleicht drei oder auch vier Jahre. Es ist lange her.
Sie war entsetzlich alt und verschrumpelt, die älteste Frau, die es je gab. Und als ich diese Merkmale gewaltigen Alters in ihrem Gesicht sah, wusste ich sofort, dass etwas Zauberisches an dem Weib war, denn sogar in jenen frühen Tagen war es für die Menschen ganz leicht, ein Remake zu bekommen, und darum sah auch damals kaum irgendwer alt aus. Hier stehe ich heute, mit fast zweihundert Jahren Leben hinter mir, und mein Haar ist schwarz wie ehedem, meine Zähne sind gesund, und meine Haut ist straff. Ihr würdet in meine Augen schauen müssen – und tiefer hinter sie, in meine Seele, wolltet ihr begreifen, wie lange meine Wanderschaft schon dauert und wie weit mich meine Fahrt gebracht hat.
Diese Frau, dieses Gespenst meiner Kindheit, sah alt aus. Ihr Gesicht war voller Falten und Runzeln, und ich glaube, es fehlten ihr ein paar Zähne, und ihre Nase war messerscharf. Und aus ihrem hageren, wie ausgedörrten Zigeunergesicht flammten die Augen wie zwei dunkle Sterne, in deren Innerem geheimnisvolle Glutöfen loderten. Sie kam direkt aus einem Märchen, sie war das alte Hexenweib, war die zauberkräftige Muhme, die alte Zigeunerin, die Tarockkarten legt und einem das Schicksal aus der Hand liest. Sie kam in mein kleines Zimmer gehumpelt und ergriff mit ihren Krallenfingern mein dünnes Handgelenk. Und brabbelte Zaubernamen auf mich nieder:
»Du bist Chavula«, flüsterte sie. »Du bist Ilika. Du bist Terkari.«
Das sind die Namen von Königen. Große Namen, die donnernd und dröhnend durch die Korridore der Zeit hallen.
Ich fürchtete mich keinen Augenblick lang vor ihr. Sie war die alte weise Frau, die Erzmutter, die Seherin. Die wir in unserer Sprache die phuri dai nennen. Und wie hätte ich eine gute weise Frau fürchten können? Aber außerdem war ich sowieso überhaupt noch zu jung, um irgend etwas zu fürchten.
»Du bist die Erwählte«, summte sie auf mich ein. »Du wirst der Große sein.«
Was hätte ich sagen können? Wie viel verstand ich davon? Nichts, nichts.
»Die Stunde deiner Geburt war die tiefste Zeit des Mittags«, sagte sie in ihrem Singsang. »Das ist die Stunde der Könige. Du bist Terkari. Du bist Ilika. Du bist Chavula. Und sie sind du, Yakoub Nirano Rom. Yakoub, der König! Du hast die Zauberkraft in dir. Du besitzt die Macht.«
Sie summte mir ihre Prophezeiungen zu, und ich, ich hielt das für ein Spiel. Sie legte mir mein Lebensschicksal auf die Schultern, spann das unentrinnbare Gewebe meiner Zukunft um mich, und ich lachte voller Erstaunen und Entzücken und erahnte nicht im geringsten, wie schwer die Bürden sein würden, die sie mir zum Geschenk machte. Um ihre Gestalt lag eine glühende Aura, ein magisches elektrisches Leuchten. Ihre Füße schienen den Boden überhaupt nicht zu berühren. Und das interessierte mich am meisten an der ganzen Sache: wie sie da so schwebte. Aber natürlich war ich damals sehr jung, und ich hatte nie zuvor Geister oder Gespenster gesehen. Ich hatte keine Ahnung von den dahinter waltenden Prinzipien. Aber alles Magische und jeder Zauber enthüllt sich von ganz allein, wenn du nur lange genug lebst, bis die Erklärung dich findet; und später dann, da verstand ich das alles sehr gut. Später begriff ich, dass die Alte mir in Wahrheit gar nichts prophezeite, sondern mir nur von Ereignissen berichtete, deren Ablauf sie bereits gesehen hatte. Das nämlich ist es, was dem Geistwandern zugrundeliegt: man schleppt die Zukunft – die vollkommen abgesteckte und unveränderliche Zukunft – in die vorhergehende Zeit, die Vergangenheit, zurück.
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