Zigeunerstern: Roman (German Edition)
bietet und du ergreifst sie nicht und tust nichts, dann ist es eine Schande. Aber davon abgesehen – hat das Ganze mit Ehre nichts zu tun.«
Er bezog sich hier auf die moderne Form von Sklaverei, müsst ihr bedenken. In uralten Zeiten war dies eine ganz andersgeartete Einrichtung. Aber damals war schließlich alles anders. Wir verwenden heute vielleicht den gleichen Begriff für etwas wie unsere Urahnen – ›Sklaven‹, ›König‹, ›Kaiser‹, ›Gespenst‹ – aber der Bedeutungsinhalt der Wörter ist überhaupt nicht mehr der gleiche. Die ferne Vergangenheit ist nicht nur einfach ein fremdes Land, wie jemand einmal sagte, sondern überhaupt ein ganz anderes Universum.
Ich lernte, dass ich ein Sklave war, bevor ich begriff, dass ich ein Rom war. Oder um es präziser auszudrücken, ich wusste natürlich immer, dass ich ein Rom war, doch erst mit sechs Jahren begriff ich, dass die meisten übrigen Menschen keine Roma waren.
Zu Hause sprachen wir Romansch, draußen die Reichssprache, und wir wechselten von einer zur anderen ohne Schwierigkeiten über. Ich glaubte damals, das täten alle so. Unsere Mutter erzählte uns alte Zigeunergeschichten, Sagen über Götter und Dämonen, über Zauberei und Hexenkunst, über heldenhafte Fahrten im Wohnwagen durch fremde Länder, weit weg. Ich glaubte, jedermann kennt diese Sagen und Geschichten. Im Haus bewahrten wir unsere Rom-Schätze auf, Goldstücke, Musikinstrumente, buntleuchtende Tücher und Stolen, heilige Ikonen. Ich kam nie in die Häuser meiner Spielgefährten und fand darum nie heraus, dass sie dort keine derartigen Besitztümer aufbewahrten.
Einmal, ich war sechs Jahre alt, zog ich los, um unten am Flussufer vom Prachtkugelbaum eine Prachtkugel zu schneiden, und als ich dort ankam, sah ich, wie meine Schwester Tereina von einer Bande anderer Kinder angegriffen wurde. Tereina war zwölf, und die Jungen und Mädchen, die auf sie losgingen, mochten acht oder neun Jahre alt gewesen sein, und sie war viel größer als sie; aber es waren sechs oder sieben, und sie quälten sie. »Zigeunergesindel, Zigeunergesindel, Zigeunergesindel!«, kreischten sie und tanzten um sie herum. »Zieh-Gauner, Zieh-Gauner, Zieh-Gauner!«
Sie versuchten ihr die Halskette abzureißen. Es war eine Kette aus schimmernden Windskarabäusschalen, und unser Vaterbruder hatte sie ihr von Iriarte als Geschenk mitgebracht, und es war ihr allerkostbarster Besitz und schimmerte in hundert zarten Farben. Tereina schlug wild auf die krallenden Hände ein. Sie war zwar zu groß für die Kinder, aber denen war es gelungen, ihr die Bluse aufzureißen, und ich sah lange rote Kratzspuren auf der bloßen Haut ihrer Brust.
»Zigeunergesindel, Gesindel, Gesindel …«
Dann sah sie mich und schrie meinen Namen. Und sie bat mich auf Romansch, ihr zu helfen, und dann sagte sie in der Reichssprache: »Yakoub, straf sie, leg den Bösen Blick auf sie, gib ihnen den Bösen Blick, Yakoub!«
Wie gesagt, ich war erst sechs, aber ich war groß und kräftig und brauchte mich überhaupt nicht vor ihnen zu fürchten. Und meine Mutter hatte mir die Legenden vom Bösen Blick erzählt, von der Schwarzen Zauberei, welche die drabarne, die Zigeunerhexen in alter Zeit, anwandten, um ihren Feinden Leid zuzufügen. Manche von diesen Legenden sind natürlich reinste Phantasiegebilde, aber manche haben einen wahren Kern, nur konnte ich das in diesem Alter natürlich noch nicht unterscheiden. Für mich war damals noch alles wirklich, und so glaubte ich denn auch, ich könnte die Quälgeister meiner Schwester mitten ins Herz der Sonne schleudern, wenn mir nur die richtigen Worte zu Gebote stünden und ich die vorschriftsmäßigen Bewegungen ausführte. Ich glaube, die anderen Kinder glaubten das ebenfalls; ich riss die Augen weit auf, blies meine Wangen auf, krümmte die Arme grotesk über dem Kopf und stapfte auf sie zu, wobei ich vor mich hin sang: »Iachalipe! Iachalipe! Iachalipe!« – Verzauberung, Verzauberung, Verzauberung! – und die Bande machte kehrt und floh quiekend wie Ferkel in Panik. Und ich brüllte vor Lachen und schrie ihnen Flüche hinterdrein und spritzte meinen Harn hinter ihnen her, um sie zu verhöhnen.
Tereina heulte und zitterte. Und ich tröstete sie, wie Männer eine Frau trösten, ich streckte die Arme hoch und schlang sie ihr um den Leib, obwohl ich doch nur ein kleiner Junge war. Dann fragte ich sie: »Warum haben die das getan? Weil wir Sklaven sind?«
»Wieso sollte es ihnen was ausmachen,
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