Zigeunerstern: Roman (German Edition)
gegeben – und er hat die Welt mit den Mitteln ausgerüstet, diesen Hunger zu stillen; wenn wir uns also nehmen, was wir brauchen, so befolgen wir doch nur Gottes Gebot.«
»Ja, aber wenn wir Sachen nahmen, die uns nicht gehörten …«, sagte ich, weil ich an die gierig raffenden Finger der Gaje-Kinder an dem kostbaren Halsband meiner Schwester dachte.
»Das geschah alles vor langer Zeit, und das Leben war hart. Und sie hätten uns einfach verhungern lassen, die Gaje. Darum nahmen wir uns, was wir brauchten, nur das Notwendigste, Gras für unsere Pferde, Holz für unser Feuer, ein paar Früchte von den Bäumen … na ja, vielleicht auch ab und zu das eine oder andere Hühnchen, das seinen Stall nicht mehr fand. Aber wie durften sie uns die Dinge verweigern, die es auf Erden gab, damit man sie nutze, wenn wir hungerten und wenn uns dürstete?«
Und dann zeichnete mir mein Vater ein Bild vom Leben der Roma auf der von den Gaje beherrschten Erde, das mich bestürzte und bis in die Knochen frieren ließ. Sie sahen in uns rassisch minderwertige, zerlumpte Leute mit strähnigem ungekämmten Haar, Landstreicher, Trickbetrüger, Bettler, Diebe, Zaubersprüche zischende Schlangenbeschwörer, Tänzer, Hufschmiede, Kesselflicker, Gaukler und Akrobaten, die in brüchigen Karren von einem Land ins andere ziehen, an den öden Außenbezirken der Siedlungen ihr Lager aufschlagen, dort, wo die braven Sesshaften all ihren ekligen Unrat abladen, was der rechte Platz ist für uns; Untermenschen waren wir und klebten aneinander durch niemals endende Tricks und Improvisationen. In ein Leben voller Lügen und Betrügereien hineingezwungen, ein Bettlerdasein voller erbärmlicher Windigkeiten und Erniedrigungen. Verspottet und verachtet, ständig das üble Getuschel im Rücken. Und sogar ganz offiziell getötet – einfach so: getötet! –, aus keinem anderen Grund und für kein anderes Verbrechen, als dass wir anders waren, nicht so waren wie diese stumpfsinnig-traurigen sesshaften Leute, zwischen denen wir umherzogen … Ich fing an, diese verlorengegangene Erdenwelt als eine Art von Fegefeuer zu sehen, eine Vorhölle, in der meine Vorfahren eine mehrtausendjährige Folter durchleben mussten.
Während mein Vater sprach, hatte ich zu weinen begonnen.
»Nein!«, sagte er und schüttelte mich schmerzhaft hin und her. »Nein! Das ist kein Grund zum Flennen. Sie haben uns gequält, und wir haben gelitten, aber sie haben niemals unseren Lebensgeist gebrochen. Wir hatten unser Leben, die Gaje hatten das ihre. Vielleicht, es mag sein, war ihr Leben bequemer, aber unser Leben war stärker, war echt! Unser Leben, das war das wahre, wirkliche Leben. Wir waren die Könige und Herren der Wege, Yakoub! Wir zogen in den Stürmen dahin. In unserem Mund war der Geschmack einer so vielfältigen Freude, die ihnen vollkommen fremd geblieben war. Und so ist es noch heute, Yakoub: Früher einmal Bettler und Diebe, einst das verlauste, verlotterte ›Fahrende Volk‹, die Zigeuner! O ja! Könige und Herren der Straße … und nun sind es die Straßen, nein, die Straße zwischen den Sternen! Durch die vielen, vielen Jahre hin haben wir unseren Weg nicht aus den Augen verloren. Einige von uns, nun, die scheren schon ab und zu vielleicht einmal aus, gewiss, aber sie kehren immer wieder auf den Pfad zurück, und immer wieder bringen sie neues Leben in die Aufgabe, die uns Roma gestellt ist. Und dieser unser Weg, mein Sohn, er bewirkte in uns eine große Gelassenheit und Bereitschaft zur Güte. Und es sollten noch größere Dinge folgen. Unsere Sprache ist die Große Sprache. Wir leben das Große Leben. Wir fahren die Große Straße. Und stets leitet uns dabei das Eine Große Wort.«
»Das Eine Wort?«, fragte ich. »Was ist denn das Eine Wort?«
»Das Eine Wort lautet: Überleben! «
2
Natürlich begriff ich von der Geschichte in ihrer ganzen Bedeutung damals nur wenig. Mein Vater hatte mir nichts darüber gesagt, wie wir Roma den Weg zu den Sternen wiesen, wie das Imperium entstand, oder wie wir das Roma-Königtum gründeten und es in die Struktur des Imperiums verknüpften und verwebten, woraus sich dann erst die wahre Macht bildete, welche die Menschheit lenkt und regiert. Es hätte wenig Sinn gehabt, all dies einem Sechsjährigen erklären zu wollen, und sei er ein Roma-Junge. Auch erzählte er mir damals nichts über unsere Zigeunersonne und unsere Roma-Heimat, auch nicht, wieso wir Roma ein Volk waren, das sich von den Gaje-Völkern
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