Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Zeit, sagte ich mir, würde ich die Wahrheit erkennen. Aber bis dahin zog ich es vor zu warten. So sagte ich mir. Und so wartete ich eben. Ich wurde groß und breit und stark. Ich ließ mir ein Bärtchen auf der Oberlippe wachsen, so dass ich – wenn ich mich im Spiegel begutachtete – allmählich das Gesicht meines Vaters zu sehen begann. Ich erlernte fremde Sprachen und Astronomie und Geschichte und eine Menge anderer wissenswerter Dinge, und in der Dämmerung ritt ich oft über die Ebene hinter dem Palast dahin. Ich ritt das angenehm gängige Pferd aus der sechsbeinigen Iriarte-Zucht, das mir Loiza la Vakako zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Und manchmal sah ich dann sie, seit in der Ferne, wie eine schimmernde Erscheinung im bläulichen Sonnenaufgang, auf einem noch schnelleren Pferd dahinrasen. Während ich immer stärker tagtäglich zum Mann wurde, schien sie sich überhaupt nicht zu verändern: sie blieb unentwegt das Mädchen, die Jungfrau, vor dem Sprung hinauf (oder hinab) in die volle Weiblichkeit; sie blieb strahlend und makellos.
Manchmal war es aber nicht Malilini, die ich dort in der Ferne sah, sondern ihre wandernde Geistgestalt. Das erkannte ich an der Aura, die sie umgab. Und an dem geisterhaften Lächeln, das manchmal kurz durch diese Aura zu mir herüberkam, ehe sie verschwand. Und das entfachte in mir unbekannte und beunruhigend brennende Gefühle.
Zu jener Zeit hatte ich kaum eine Ahnung davon, was es mit dem Geistwandern auf sich hat. Es gab auch niemanden, an den ich mich um Aufklärung hätte wenden können: schließlich sprechen wir über derlei kaum jemals freimütig untereinander, ganz zu schweigen davon, dass wir es gar schriftlich und in Büchern niederlegen würden. Seit meinen Tagen auf Megalo Kastro hatte ich gewusst, dass manche Menschen es irgendwie fertigbringen, ihren Geist von ihrem Körper abzuspalten und abzulösen, und dass sie dann an ferne Orte schweifen können, offenbar den Augen der meisten Menschen unsichtbar, aber mit der Fähigkeit ausgestattet, sich jederzeit und jedem beliebigen Menschen gegenüber (wenn auch auf seltsame und nicht-ganz-greifbare Weise) sichtbar zu machen, den sie sich dafür erwählen. Und diese Geister oder Gespenster, oder einfach nur ›Erscheinungen‹, wiesen dann stets eine Aura auf, eine Art zuckender elektrostatischer Ladung um ihre Gestalt.
Inzwischen war mir klar geworden, dass eines der Gespenster, die mich auf Megalo Kastro heimgesucht hatten, der Geist von Malilini gewesen war. Außerdem – da ich nun allmählich mein erwachsenes Mannsgesicht bekam – erkannte ich, dass ein anderes Gespenst, der Mann mit dem langen hängenden Oberlippenbart und dem dröhnenden polternden Lachen, höchstwahrscheinlich mein eigenes Spukabbild war. Selbst jetzt noch sah ich ihn ja hin und wieder. Er hing schwebend sekundenlang vor mir in der Luft, kniff ein Auge zu, grinste, tätschelte mir vertraulich-heiter die Wangen zum Gruß.
Wenn aber dieser Mann ich ist, deduzierte ich logisch, dann muss ich die Fähigkeit erworben haben, auf Geistreisen zu gehen. Nur, wie macht man so etwas? Wie? Wie?
Manchmal hockte ich stundenlang ganz allein auf einem großen thronförmigen grünen Felsblock am Ufer des scharlachroten Meeres und versuchte ›es‹ hinzubekommen. Ich malte mir aus, dass ich einen Keil in mein Gehirn hinabtreibe, so wie ein Steinhauer mit einem Meißel einen Marmorblock spaltet, und dass ich so ein Stück meines Bewusstseins, meiner Seele, absplittern könnte, das dann frei und ungebunden in andere Welten schweben würde, in andere Zeiten. Aber es funktionierte nie. Ich holte mir nur gigantische Kopfschmerzen, als hämmerte da tatsächlich jemand mit einem Steinmetzmeißel in meinem Gehirn herum, aber sonst ereignete sich gar nichts.
Aber dann saß eines Tages plötzlich Malilini neben mir auf dem breiten grünen Felsthron. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie und wie sie gekommen war.
»Du möchtest gern wissen, wie man es macht, ja?«
»Was?«
»Na, Geistern. Das ist es doch, was du die ganze Zeit hier versuchst. Ich weiß das doch.«
Meine Wangen brannten. Meine Augen wichen den ihren hartnäckig aus. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Yakoub … Yakoub …«
»Ich mach hier weiter nichts, als dass ich meine Quadratischen Gleichungen noch mal durchgehe.«
Und dann legte sich ihre Hand auf die meine. So zart und zerbrechlich, dass mir davon schwindlig wurde.
»Lass mich dir doch zeigen, wie es geht«,
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