Zigeunerstern: Roman (German Edition)
sagte sie.
10
Der erste Geistertrip, auf den du gehst, ist die schrecklichste Erfahrung, die du jemals in deinem ganzen Leben durchmachen wirst. Ich vermute, sogar das Sterben ist im Vergleich damit harmlos.
Deine Seele reißt in zwei Stücke. Ein Teil von dir fällt wie eine bleischwere Kotwurst abwärts, der andere Teil bricht sich frei und schießt ungezügelt hinauf wie ein außer Kontrolle geratenes Sternenschiff, das in wilden willkürlichen Sprüngen durch den Kosmos taumelt. Nur ist es eben nicht bloß der Kosmos, den du durchwanderst, nein, du wirbelst im Strom der Zeit dahin, und dieser Fluss fließt von der Vergangenheit in die Zukunft – und du, du schwimmst strom aufwärts .
Du siehst dann alles, was jemals in aller Zeit und allem Raum gewesen ist – und nichts ergibt für dich einen Sinn. Denn was du siehst, das siehst du hier zum allerersten Mal. Ein Stuhl, den du siehst, braucht keine weitere Erklärung, eine Blume auch nicht oder ein Fisch – und du bist da und kannst auf einmal nichts mehr begreifen. Du gehst auf einer Landstraße und weißt plötzlich nicht mehr mit Sicherheit, ob du dich nach Osten oder Westen bewegst, bis dir schlagartig klar wird, dass du dich in beide Richtungen zugleich bewegst. Du gehst hoffnungslos in die Irre, und du erstickst fast an deinem Gefühl völliger Verwirrtheit. Du möchtest am liebsten weinen, aber du weißt überhaupt nicht mehr, was das ist: Weinen. Und du hast auch keine Ahnung, wie man etwas wünscht oder etwas wollen soll.
Dann überkommt dich ein Ur-Entsetzen, eine Angst, die dich schüttelt wie hundert Erdbeben gleichzeitig.
Menschen, denen du nie zuvor begegnet bist, grüßen dich und lächeln dir entgegen … oder sagen sie etwa Lebewohl? Du steigst fünf Meter einen Hang hinauf und stellst plötzlich fest, dass du bergab gehst. Es gibt für dich keine Orientierungspunkte. Die ganze Welt um dich ist wie Wasser. Der Horizont krümmt sich. Sterne fallen wie Regenschauer und sind wie glühende Goldtropfen überall um dich her. Du hörst den Klang von Lachen, du hörst Weinen … du hörst nichts: Die Stille dröhnt wie eine gewaltige Glocke. Die Welt ist ein Mahlstrom, ein Wirbel, ein Strudel, und du beginnst zu ertrinken. In deiner Kehle hat sich ein Etwas eingenistet, irgendein fremdes Geschöpf. Die Augen beginnen dir in den Höhlen zu kreisen. Und dieses urzeitliche Entsetzen wird immer stärker, und endlich begreifst du, was es ist … es strömt aus dem Herzen, dem innersten Zentrum des Universums auf dich ein. Und die Angst, die du fühlst, ist nichts weiter als jene Kraft, durch welche die Atome des Universums aneinander gefesselt sind. Die Ur-Substanz, der Ur-Stoff, das ist es. Alle diese Teilchen klammern sich aneinander aus entsetzlicher Angst – aus Angst vor dem Chaos … vor dem Isoliertsein … dem Kontaktverlust. Und sobald du dies einmal begriffen hast, ebbt deine Furcht allmählich ab. Sämtliche Bindungen und Bande sind gelockert oder gelöst, aber es spielt keine Rolle mehr. Man kann lernen, das Chaos zu mögen. Es zu lieben. Alles strömt zentrifugal fort, aber es ist gut so.
Und wenn die Furcht schwindet, wenn die Atome den gegenseitigen Machtgriff lösen, dann kannst du endlich irgendwo Fuß fassen, Halt finden, auch wenn du frei in der extremen Leere dahin treibst. Du kannst nämlich nicht abstürzen, weil es ja oben und unten nicht – und überhaupt nichts – gibt. Und in dieser essentiellen Leere kannst du dann jede gewünschte Wahl treffen.
Dorthin, sagst du. Ich will dorthin gehen. Und du gehst ganz einfach ohne weiteres dorthin. Keiner sieht dich, es sei denn, du möchtest, dass dich einer sieht. Du kannst auch nicht mit anderer Materie zusammenstoßen, denn dich umgibt ein sogenannter Interpolationsgürtel, eine Art Rundum-Aura, die alles Störende vor dir aus dem Wege räumt. Nehmen wir an, du hast Lust, nach Megalo Kastro zu reisen – und sofort bist du da – auf Megalo Kastro. Und dort schwebst du dann in der Luft über einem fleischrosa, dampfenden warmen Schlammbecken, das eine halbe Welt umspannt … und ein nackter Junge wird von dieser zuckenden Wabbelmasse halbsolider Flüssigkeit auf- und abgewiegt. Es sieht aus, als schliefe er. Als träume er. Und du, du lächelst ihm zu.
»Yakoub?«, sagst du zu ihm. Die Aura um dich herum knistert und sprüht Funken. Er öffnet die Augen. Und seine Augen sind klar und furchtlos, und sie leuchten. Und du fängst ihn in deinem dröhnenden Lachen ein und
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