Zigeunerstern: Roman (German Edition)
– trotz all unserer spirituellen Kräfte nicht wagen, etwas daran ändern zu wollen. Dieser Fatalismus zieht sich wie eine klebrige dunkle Ölspur über die klaren Wasser unserer Seelen. Ich dachte vielleicht tausendmal an jedem Tag daran, dass ich ja selbst mich davonstehlen und in die Stunde vor Beginn des Festbanketts wandern könnte, um die Warnung auszusprechen, die Malilini gerettet haben würde; doch jedes Mal schaute ich dann zu Loiza la Vakako und stieß dort gegen seine stahlharte Hinnahme des Geschehenen – und mich verließ der Mut. Es konnte keine Warnung ergehen, weil keine Warnung empfangen worden war. Und wie hatte Malilini dies in einem glücklicheren Augenblick vor langer Zeit gesagt? »Es gibt niemals ein Zuerst.« Oder doch so ähnlich. Alles ist kreisförmig, und alles ist festgelegt. Prophetische Vorhersagen gibt es nicht, sondern es gibt nur die Übergabe von Berichten über die bekannten faktischen Entwicklungen der Zukunft, die aber als solche genauso unveränderlich und hermetisch versiegelt ist wie die Vergangenheit. Als ich später selbst größere Erfahrung mit Geistreisen gewann, begriff ich dies nach und nach genauer. Dass es nämlich ein Gesetz gibt – nennen wir es eine Moralvorschrift; denn noch niemals hat ein Herrschender es sich oder anderen zum Gesetz erhoben: Dass wir unsere Macht nicht dazu verwenden dürfen, die Vergangenheit zu ändern, auf dass wir nicht alles ins Chaos stürzen. Loiza la Vakako war entschlossen, sich an diesen moralischen Imperativ zu halten und ihm gemäß zu leben, selbst wenn das für ihn den Verlust seiner Tochter und seines Reiches bedeutete. Und Malilini hatte sich durch ihren Versuch, dieses Gesetz zu durchbrechen, das niemals verletzt werden darf, selbst verurteilt, und keiner vermochte sie jetzt noch zu retten. Damit musste ich mich abfinden. Doch tief in meinem Innern schrie und tobte ich gegen den Wahnsinn, den aberwitzigen Unsinn der Ereignisse und sagte mir immer und immer wieder vor, es müsse doch trotzdem noch möglich sein, Malilini zu retten und dem Loiza la Vakako die Entmachtung zu ersparen, wenn er sich nur dazu bereiterklären würde. Und dies eben würde er niemals tun. Manchmal gewann ich beinahe den Eindruck, als gäbe er ihr die Schuld an ihrem eigenen Sterben!
Inzwischen wartete ich auf meinen Tod. Doch die Tage zogen dahin, und man überließ uns weitgehend uns selbst, hin und wieder warf man uns ein paar Brocken Nahrung zu, doch sonst kümmerte sich keiner um uns. Wir starrten allmählich vor Dreck, und unser Atem stank, und die Zähne fühlten sich an, als müssten sie uns bald aus dem Kiefer fallen. Ich konnte nicht begreifen, wie tief wir gesunken waren. Aber ich fragte mich, welche Tiefen sich noch für uns auftun würden.
Die heitere Gelassenheit Loiza la Vakakos hielt ohne Schwanken an. Ich fragte ihn, wie es ihm nur möglich sei, in einer derartigen Trübsal so gleichmütig zu bleiben, und er zuckte die Achseln und sagte, alles liege im Ratschluss Gottes, und wer er denn sei, dass er es wagen dürfte, mit dem Großen Meister des Alls über seine Planungen zu rechten? Denn der HERR bestimme, was geschieht, und uns sei gegeben zu gehorchen, und wir dürften nicht fragen, wie absurd oder falsch oder gar bösartig die Geschehnisse ihrer äußeren Gestalt nach uns erscheinen möchten.
Ich gab mir redliche Mühe, solche Weisheit zu übernehmen und sie mir zu eigen zu machen. Aber meine Verzweiflung war wohl einfach zu gewaltig. Den Verlust der Annehmlichkeiten konnte ich leicht hinnehmen, die mir das neue Leben auf Nabomba Zom beschert hatte. Denn sie waren mir durch eine plumpe List des Schicksals zuteil geworden. Also fiel es mir nicht schwer, mit dem plötzlichen Verlust fertigzuwerden. Was ich aber nicht begriff, war: Was musste das für ein Gott sein, der zuließ, dass ein Bruder seinen Bruder in den Staub trat? Wieso sollte es dem Wohlergehen dieser Welt dienlich sein, den Tyrannen Pulika Boshengro an die Stelle eines Weisen wie Loiza la Vakako zu setzen? Und die für mich schmerzlichste Frage – welcher Gott konnte das Recht haben, mir meine Malilini hinrichten zu lassen? Mit welchem Recht verwarf ein Gott so großen Liebreiz und stieß ihn aus der Welt der Lebendigen?
Nein! Nein, nein und nein!
Auch damals schon stellten sich Geistbesucher bei mir ein, wenn ich so dalag und in mich hineinschluchzte. Keiner sprach jemals zu mir, aber sie reichten mir die Hände, als wollten sie mich trösten, oder sie
Weitere Kostenlose Bücher