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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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ein wenig zu groß.
    »Ich frage mich, welch eine Botschaft es überbringt«, schnaufte Encho.
    »Sicher keine gute«, erwiderte Onogawa düster. Es fiel ihnen nicht leicht, mit dem Wesen Schritt zu halten. Nach einer Weile erreichten sie das südliche Ende der Ziegelstadt Ginzas und hasteten über ungepflasterte Straßen. Sie befanden sich nun im Shiba-Distrikt, Heimstatt der Diebe und Wallfahrtsort derjenigen, die im großen Zojoji-Tempel beten wollten. Sie folgten weiterhin dem Verlauf der Telegrafendrähte. »Aha!« rief Onogawa. »Der Dämon will zum Shinbashi-Bahnhof, zu seinen Freunden, den Lokomotiven!«
    Onogawa legte einen Sprint ein, und es gelang ihm, das funkenstiebende Monstrum zu überholen. Unter dem Kabel blieb er stehen, und wütend schwang er den Pfeifenstil. »Ha!« brüllte er. »Zurück mit dir!«
    Das Etwas wurde ein wenig langsamer und verharrte über ihm. Stinkende Ascheflocken regneten herab, konnten dem ehemaligen Samurai jedoch nichts anhaben. Voller Abscheu verzog Onogawa das Gesicht, sprang zur Seite und wischte sich den Schmutz von der Jacke. »Pah!« machte er.
    Das Ungeheuer glitt weiter, und Encho schloß zu seinen Gefährten auf. »Es darf nicht zum Bahnhof gelangen!« keuchte der Komiker. »Mit den Lokomotiven würden wir nicht fertig.«
    Onogawa holte tief Luft und versuchte, sich die letzten Reste der übelriechenden Asche von den Ärmeln zu streifen. »Nun, ich glaube, wir haben dem verdammten Monstrum eine Lektion erteilt, die es so schnell nicht vergessen wird.«
    »In der Tat«, bestätigte Encho und schnappte nach Luft. Seine Wangen gewannen einen grünlichen Ton, und er beugte sich über einen nahen Holzzaun, hinter dem hohes Herbstgras wuchs. Deutlich war sein Würgen zu hören.
    Onogawa begriff plötzlich, daß er nicht etwa ein Schwert in der Hand hielt, sondern einen abgebrochenen und mit einigen metallenen Ringen versehenen Pfeifenstiel. Er begann zu zittern. Dann brummte er einen Fluch und warf den nutzlos gewordenen Bambusstock fort. »Man hat uns die Schwerter genommen«, sagte er. »Wenn man aufrechten Soldaten wie uns die Schwerter zurückgäbe, so würden wir dieses Land rasch vom fremden Fluch befreien. Sieh nur, was das verdammte Ungeheuer mit meiner Jacke anstellte! Es hat mich beschmutzt.«
    »Nein, nein«, erwiderte Encho und wischte sich den Mund ab. »Du warst unglaublich! Wie Shoki, der Dämonenschreck!«
    »Shoki«, wiederholte Onogawa und klopfte seinen Hut ab. »Ich habe Bilder von Shoki gesehen. Er ist Krieger und Halbgott, und man stellt ihn mit rotem Gesicht und einem riesigen Schwert dar. Dauernd jagt er irgendwelche Ungeheuer, nicht wahr? Aber er ahnt nicht, daß sich die ganze Zeit über ein kleiner Dämon auf seinem Kopf versteckt …«
    »Nun, ich wollte sagen, du warst wie Yoshitsune«, fügte Encho hastig hinzu und machte seinem Gefährten damit ein noch besseres Kompliment. Yoshitsune war ein legendärer Meister der Fechtkunst, ein nationaler Held ohnegleichen.
    Unglücklicherweise war der berühmte Yoshitsune von den Helfershelfern seines heimtückischen Bruders, der die Macht über Japan an sich reißen wollte, mit Pfeilen gespickt und getötet worden. Heute führten Yoshitsune und seine hohen Ideale nur noch ein jämmerliches Schattendasein in den Volkssagen und -legenden. Weder Encho nach Onogawa verloren Worte darüber, doch die Melancholie jener alten Überlieferungen trübte ihre Stimmung und machte ihre Welt zu einem Jammertal. Dabei half natürlich auch der Bourbon.
    »Wir sollten besser in die Ziegelstadt zurückkehren und unsere Schuhe holen«, schlug Onogawa vor.
    »Na schön«, erwiderte Encho. In den beschlagnahmten Holzpantoffeln hatten sich Blasen an ihren Füßen gebildet, und als sie zurückgingen, schritten sie besonders langsam und vorsichtig aus.
    Yoshitoshi erwartete sie im Flur. »Habt ihr den Dämon erwischt?«
    »Er floh zum Bahnhof«, erklärte Encho. »Wir konnten ihn nicht aufhalten. Der Draht war zu hoch.« Er zögerte. »Sag mir, Freund: Rechnest du damit, daß das Ungeheuer hierher zurückkommt?«
    »Selbstverständlich«, sagte Yoshitoshi und nickte. »Es lebt in den Kabelsträngen vor dem Fenster. Gerade deshalb habe ich die zusätzlichen Läden angebracht.«
    »Hast du es denn schon einmal gesehen?«
    »In der Tat«, brummte Yoshitoshi. »Ich habe viele Dinge gesehen. Es ist mein Beruf, aufmerksam Ausschau zu halten. Egal, was die Leute über mich sagen.«
    Die beiden anderen Männer musterten ihn verwirrt,

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