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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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neuen Blickwinkel, mit den Augen eines Bastlers. Sein ganzes Leben wartete auf eine Umgestaltung.
    Er fuhr mit dem krachenden Aufzug ins Erdgeschoß. Draußen im Park löste sich die Zuschauerschaft des Films auf. Turner fand eine Mitfahrgelegenheit im Tretauto einiger Teenager, die in einem kampong am Wasser lebten. Er übernahm auf dem ersten Stück das Treten und stieg einen Block vor dem Pier, das Brooke benutzte, wieder aus.
    Die rissigen Betonkais wurden von einem langen, windschiefen Dach aus Blech und Bambuskuppeln geschützt. Ein halbes Dutzend Fischerboote dümpelte neben einem alten Hafenkahn im Wasser. Brookes erstes Boot, ein heruntergekommener Luxuskreuzer, war auf Kiel gelegt, die Dieselmotoren auseinandergenommen.
    Die Leiterin des Hafen -kampong war eine dicke, mütterliche malaiische Großmutter. Sie hielt wie jeden Freitagabend mit ihren Freundinnen eine Putz- und Flickstunde ab und reparierte im gelben Schein einer Alkohollampe die Segel der Boote.
    Brooke sollte erst am nächsten Morgen einlaufen. Turner war entschlossen, auf ihn zu warten. Er hatte nicht um Erlaubnis gebeten, außerhalb seines kampong zu übernachten, aber nach zähen, holprigen Übersetzungen machte er den Ortsansässigen klar, daß sie für ihn bürgen mußten. Er entfernte sich vom malaiischen Geschnatter und fand eine dunkle Ecke.
    Er legte sich auf einen Stapel alter Reissäcke, aus denen Mehlstaub wallte, und beobachtete die Umgebung. Er konnte nicht schlafen. Sobald sich seine Augen schlossen, lief in seinem Gehirn ein innerer Monolog ab: Proben für das Gespräch mit Brooke.
    Die Frauen arbeiteten weiter, in den milden Schein der Lampe getaucht. Sie genossen unschuldig ihre Arbeit, sicher aufgehoben im Gefühl ihrer Mütterlichkeit. Doch Turner wußte, daß Maschinen schneller und besser genäht hätten. Instinktiv zerlegte ein Teil seines Gehirns die Arbeit in Computerbefehle: vereinfachen, analysieren, reduzieren.
    Aber zu welchem Zweck? Wozu war er gut, dieser technische Kram, den er gelernt hatte? Er war aus eigenem Entschluß Ingenieur geworden. Weil ihm dieser Beruf einen Ausweg bot, weil er schon immer seine Begabung dafür in Händen und Augen gespürt hatte … wegen der Belohnungen, die er ihm bot. Freiheit, Unabhängigkeit, Geld. Die Belohnungen des Westens.
    Aber welche Kontrolle besaß er? Belohnungen konnte man ohne Vorwarnung wegnehmen. Er hatte andere über Bord gehen sehen, deren Spezialisierung plötzlich nutzlos wurde. Ausbildung und Training boten keinen Schutz. Nicht heute, wo man Spezialistenwissen in ein computerisiertes Expertensystem einprogrammieren konnte.
    War er wirklich sicherer als diese Leute von Brunei? Ein Anruf, der dreißig Minuten dauern mochte, konnte diese Frauen überflüssig machen – eine Gesellschaft, die ihre Arbeit von Robotern erledigen ließ, brauchte keine Segel mehr. Innerhalb ihres kleinen Gewächshauses, in ihrer Miniaturwelt mit ihren sanften Technologien, hatten sie mehr Kontrolle als er.
    Die Leute im Westen redeten über die technische Elite« – und Turner wußte genau, daß es eine Lüge war. Die Technik raste weiter, verbrannte auf Hochtouren die letzten Ölreserven der Welt, aber niemand stand am Steuer, nein. Große Institutionen, ob Regierungen oder Firmen, rangen um Kontrolle, aber sie begriffen nicht. Sie hatten kein Gefühl für Technik und ihre Bedeutung, für das schöne Gefühl, wenn man ein gutes Design berührte.
    Die ›technische Elite‹ war ein Trupp Botenjungs. Sie entschieden nicht, was sie studieren sollten, woran sie arbeiten sollten, wo sie am nützlichsten waren und welchem Zweck sie dienten. Das wurde durch Geld entschieden. Die Techniker gehörten den abstrakten Daten und den Nullen in den Mikrochips von Bankern. Sie wurden von Schiebern in Seidenanzügen entlohnt, die noch nie im Leben einen Schraubenschlüssel in der Hand gehabt hatten. Wissen war keine Macht. Nein, nicht für Ingenieure. Es waren zu viele Abstraktionen im Weg.
    Aber seine Begabung war eine Realität – das hatte auch Brooke ihm gesagt, und nun erkannte Turner, daß es die Wahrheit war. Das war ein Grund für einen Ingenieur: nicht das Geld, denn mit Aktenschieben konnte man mehr verdienen. Nicht die Macht; die lag in den Händen des Managements. Es war die Sache selbst.
    Er lehnte sich im Dunkeln zurück und roch den Teer und den Reisstaub. Zum erstenmal in seinem Leben glaubte er wirklich zu verstehen, was er tat. Nun, da er seiner Familie und seiner Vergangenheit

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