Zimmer Nr. 10
das Auto war vom Grau verschluckt, bevor Winter den Eingang erreichte. Er atmete die feuchte Luft. Sie fühlte sich nicht gut an. Später würde er sie gegen Zigarrenrauch eintauschen.
Im Verhörraum war die Luft leichter. Als hätte jemand ein Fenster zum Lüften geöffnet, das einen anderen Abend hereinließ.
Der junge Mann saß auf dem Stuhl. Die Haare hingen ihm in die Augen, als hätte er sie absichtlich so gekämmt, um seine Identität zu verbergen. Aber die war bekannt. Er hieß Jonas. Der Name sagte Winter nichts, Vornamen sagten selten etwas aus. Er kannte den Jungen oder den Mann nicht, wusste nur, dass er dreißig war.
»Mein Name ist Erik Winter«, stellte er sich vor. »Ich bin Kriminalkommissar.«
Der Mann nickte, ohne seinen Nachnamen zu nennen.
Winter nahm das Formular, das auf dem Tisch lag, und las die obersten Zeilen. Der Mann hieß also Jonas mit Vornamen, sein Nachname war ziemlich ungewöhnlich. Auch er sagte Winter nichts, trotzdem kam er ihm vage bekannt vor. Winter hob den Blick und betrachtete den Mann. In seinem Gesicht war nichts, das Winter erkannte.
»Warum bin ich hier?«, fragte Jonas Sandler.
»Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
»Das hat Ihr Kollege auch gesagt. Ich versteh trotzdem nicht, warum ich hier bin.«
»Hier ist es ruhiger«, sagte Winter.
»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich etwas … mit dem Mord an Paula zu tun habe?«
Winter antwortete nicht. Forschend betrachtete er das Gesicht des Mannes. Es war nicht nur der Name. Da war noch mehr.
»Glauben Sie das etwa?«, wiederholte Jonas Sandler. »Das ist ja verrückt.«
»Haben wir uns schon mal gesehen?«, fragte Winter.
»Wie meinen Sie das?«
»Genau so, wie ich es sage.« Winter suchte den Blick des Mannes. »Ich meine Sie zu kennen.«
»Meinen Sie, ich bin hier bekannt?«
»Nein.«
»Ist das etwa eine neue Verhörmethode?«
»Haben Sie mal mit der Polizei zu tun gehabt?«, fragte Winter. »Früher vielleicht, als Sie jünger waren.« Er legte das Formular wieder auf den Tisch. »Waren Sie zum Beispiel … Zeuge von etwas?«
Da wusste er es. Da erinnerte er sich. An das Gesicht des Jungen, seinen Namen, die Stelle, wo sie gestanden hatten. In seinem Kopf tauchten Bilder auf. Klick, klick, schnell hintereinander: die Dämmerung. Das Wäldchen. Der Hund. Die Hand.
Er ist es. Er ist dieser Junge.
»Wenn Sie es sagen …« Jonas Sandler schaute auf. »Als ich etwa zehn Jahre alt war, hab ich einem Polizisten erzählt … was ich gesehen hatte.«
»Das war ich«, sagte Winter.
»Es ist fast zwanzig Jahre her«, staunte Jonas Sandler.
Winter nickte.
»Ich erinnere mich nicht, wie Sie damals ausgesehen haben«, sagte der Junge, der inzwischen ein Mann geworden war. Aber Winter erinnerte sich an den Jungen. An sein Gesicht.
»Ich kann mich an keine Gesichter von Erwachsenen aus meiner Kindheit erinnern.« Der Junge machte eine Handbewegung. »Dazu müsste ich erst ein Foto sehen.«
»So geht es mir auch meist«, sagte Winter. »Es war mein Fall.« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Wir sind damals alarmiert worden.«
»Was ist damals eigentlich passiert? In dieser Wohnung in unserem Haus?«
»Wir haben es nie erfahren«, antwortete Winter.
»Hatte es da nicht eine Auseinandersetzung gegeben?«
Achtung, Erik. Dies ist ein Verhör. Das darf sich jetzt nicht in Erinnerungen verlieren. »Auch das haben wir nie erfahren.«
»Es hieß, Sie haben Blut in der Wohnung gefunden.«
»Wer hat das gesagt?«, fragte Winter.
»Die Nachbarn.«
Winter nickte schweigend. Im Augenblick war es ein Gespräch, kein Verhör. Vielleicht war es gut so. »Nach Aussage des Mieters der Wohnung war es ein Unfall«, sagte er.
»Sie haben ihn also gefunden?«
»Ja, am selben Abend.«
»Und seine Frau? Ich erinnere mich, dass er eine Frau hatte.« Der Junge machte wieder diese Handbewegung, als wische er etwas weg. »Ich erinnere mich nicht, wie sie aussah, aber da war jemand.«
»Sie haben wir auch gefunden.«
»Und was war es für ein Unfall?«
»Ein Küchenunfall«, sagte Winter. »Mehr sag ich nicht.«
»Ein Küchenunfall«, wiederholte Sandler. »Ist jemand umgekommen?«
»Nein.«
»Das ist gut.«
Der Junge sagte das wie zu sich selbst. Dabei hätte er es eigentlich wissen müssen. Schließlich hatte er dort gewohnt.
»Eine Hand haben wir nicht gefunden.«
Der Junge zuckte zusammen. »Nein«, sagte er so kurz, als wäre es selbstverständlich, dass sie nichts gefunden hatten.
»Haben Sie damals
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