Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
verkraftet sie es?«
Sie legte
für einen kurzen Moment erneut ihre Hand auf seinen Arm, aber die Geste fühlte sich
für Florian irgendwie falsch an.
»Ich denke,
ganz gut. Ihre Mutter war im Elternrat.« Susan Gayles Stimme klang kühl, und ihre
Schritte beschleunigten sich. »Wissen Sie, sie gehörte zu den Frauen, die Lehrern
und anderen Eltern gern vorschreiben, wie man es besser machen kann«, fügte sie
hinzu.
»Wie man was besser machen kann?«, hakte er nach.
»Alles.«
»Sie mochten
sie nicht?«
»Sabrina
Delson war beim gesamten Lehrkörper nicht sehr beliebt.«
»Na, dann
können ja nun alle aufatmen.«
Sie bedachte
ihn mit einem prüfenden Seitenblick, und Florian fragte sich, was zwischen ihr und
Sabrina vorgefallen war.
Sie lachte
nervös auf und als habe sie seine Gedanken lesen können sagte sie: »Ständig kam
sie mit neuen Vorschlägen für Schüler-Arbeitsgruppen auf mich zu. Vor vier Wochen
erst hat sie darauf bestanden, dass die Kinder einen Selbstverteidigungskurs absolvieren.
Dafür wollte sie gleich mehrere Trainer engagieren.«
»Die Idee
ist doch gar nicht schlecht«, wandte Florian ein.
»Im Grunde
ja, aber die Schule hat kein Geld dafür. Auch wir müssen haushalten, wissen Sie.«
Die Klingel
ertönte, die Pause war zu Ende, und an ihnen vorbei strömten immer mehr Schüler
und Schülerinnen hin zu ihren Klassenzimmern. Florian und Susan Gayle stiegen eine
breite Treppe hinauf, und schließlich standen sie wieder vor ihrem Büro. Nach ein
paar Abschiedsfloskeln und der Ankündigung, dass sich die Redaktionssekretärin von Profi Entertainment in Kürze bei ihr melden würde, um einen Drehtermin für
das Kamerateam abzusprechen, ging er hinüber zu dem großen Fenster, wo seine Aktentasche
stand. Bevor er sich nach ihr bückte, blickte er hinaus. Und wieder sah er Luz.
Sie hatte den Schulranzen auf den Rücken geschnallt und schaute sich verstohlen
um, dann eilte sie über den Weg, an Heckenrosen vorbei, dem Ausgang zu. Schwänzte
sie die Schule? Florian wandte sich an die Rektorin: »Sagen Sie, das kleine Mädchen
vom Pausenhof, hat es seine Mutter sehr geliebt?«
»Natürlich.
So wie alle kleinen Kinder ihre Mütter lieben.« Ihre Stimme klang hart, und in diesem
Moment wusste er zweifelsfrei, dass hier etwas nicht stimmte. Zwischen Sabrina und
Susan Gayle war etwas Gravierendes vorgefallen. Noch einmal warf er einen Blick
aus dem Fenster, doch Luz war bereits verschwunden.
Montag, 11. Juli, Nachmittag
Dele fand mit Luz in einer der hinteren
Reihen Platz, und sie spürte, wie aufgeregt das Mädchen war. In der einen Hand hielt
sie fest umklammert eine große Popcorntüte, mit der anderen griff sie immer wieder
hinein und stopfte sich ein klebriges, süßes Rund nach dem anderen in den Mund.
Der Duft von geröstetem Puffmais stimmte Dele fröhlich, und wie das Mädchen rutschte
auch sie auf dem harten Sitz hin und her.
Sie hatte
Luz von der Schule abgeholt und war auf direktem Weg mit ihr zum Zirkus gefahren.
Luz hatte ihrer Tante, die seit dem Tod ihrer Mutter sehr besorgt um sie war, erzählt,
dass sie nach der Schule mit zu einer Schulfreundin fahren wolle, und obwohl sie
der Meinung war, dass es ein bisschen zu häufig vorkam in letzter Zeit, hatte Lisa
nachgegeben.
Jetzt stand
Dele nach dem Brezelverkauf nicht im Gang wie üblich, sondern sie saß neben Luz
auf den Zuschauerplätzen. Die weiße Haube lag auf ihrem Schoß, die Schürze hatte
sie abgebunden, der beinahe leere Brezelkorb stand vor ihr am Boden. Leise flüsterte
sie ihr ins Ohr, was Luz gleich zu sehen bekäme. Sie beschrieb die Künstler und
die einzelnen Darbietungen, und über fast jeden Artisten hatte sie etwas zu erzählen.
Dem Handstandakrobaten Rafael war vorgestern mitten in der Vorstellung das Gebiss
herausgefallen, die Trapezkünstlerin Clara würde in einer Woche ihren Partner heiraten,
und die Schlangenfrau Irina, die sich so verbiegen konnte, dass sie sich mit den
Füßen von hinten die Ohren kitzelte, nähte alle ihre Kostüme selbst. Als dann endlich
die Vorstellung mit einer Lichtshow und rhythmischer Live-Musik begann und der Zirkusdirektor
in die Manege trat, um die Gäste lautstark zu begrüßen, lehnte Luz vertrauensvoll
den Kopf an ihre Schulter, und Dele durchströmte ein tiefes Glücksgefühl. Sie schloss
die Augen und betete genauso, wie sie es in der Schule gelernt hatte, ein Padre
nuestro vor sich hin: Que estás en el cielo, santificado sea tu nombre
… Sie dachte, dass
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