Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
geduldigem Papier ist. Wir müssen den Realitäten
ins Auge sehen. Es wird immer mehr oder weniger intelligente Kinder geben, und in
unserer Gesellschaft werden immer mehr oder weniger wohlhabende Eltern leben, und
nur die wohlhabenden unter ihnen können ihren Kindern auch die beste Ausbildung
ermöglichen. Das fängt in der Grundschule an und hört beim Studium auf. Such is
life …« Sie lächelte jetzt wieder und griff nach einem silbernen Stift, den sie
zwischen den Fingern drehte.
»Haben Sie
schon einmal darüber nachgedacht, Stipendien zu vergeben?«
»Nein.«
»Kinder
aus Arbeiterfamilien oder sozial schwachen Bildungsschichten sind hier also nicht
erwünscht?«
»Sie fragen,
als ob Sie mich unbedingt in die Enge treiben wollten, aber das gelingt Ihnen nicht.«
Sie lächelte, doch er hatte den Eindruck, als ob ihr Lächeln inzwischen etwas gezwungen
wirkte.
»So wie
Sie würde ich es jedenfalls nicht ausdrücken …« Sie begann damit, die Vorzüge ihrer
Schule zu erläutern, und je länger sie argumentierte, desto klarer wurde Florian,
dass sie hervorragend in seine Talk-Show passte. Sie war das Abbild des konservativen,
elitär denkenden Bildungstyps, der davon ausging, dass ein Bombardement an Wissen
aus Schülern kompetente Mitglieder unserer Gesellschaft machte. Sie war eine überzeugte
Verfechterin des dreigliedrigen Bildungssystems, wie es in Deutschland seit dem
letzten Jahrhundert existierte, und von Alternativschulen wie den Montessorischulen
oder Waldorfschulen hielt sie nicht viel. Von Gemeinschaftsschulen hielt sie gar
nichts. Nachdem Florian ihr eine Weile schweigend zugehört hatte, fragte er sie,
ob sie nicht Lust hätte, in zwei Wochen als Talkgast in die Sendung Eliteschulen
in Deutschland zu kommen. Sie sagte sofort zu.
»Wie verkraften
die Schüler den Leistungsdruck, der hier herrscht?«, fragte er bewusst konfrontativ.
»Ich meine, wie viel Kinder mit ADHS-Diagnose gehen hier zur Schule?«
Susan Gayles
Mundwinkel zuckten leicht. »Am Zappelphilipp-Syndrom leiden von insgesamt 550 Schülern
vielleicht 20. Begehen Sie aber bitte nicht den Fehler, dies auf unsere Lehrmethoden
zurückzuführen. Das häusliche Umfeld und der Anspruch, den die Eltern an ihre Sprösslinge
haben, sind in hohem Maße für die Krankheit verantwortlich.«
»Ich würde
gern einmal ein paar Schüler und Schülerinnen fragen, wie viel Spaß ihnen das Lernen
hier macht«, schlug er vor.
»Warum nicht?«
Susan Gayle erhob sich. »Die große Pause hat gerade begonnen.«
Sie gingen
durch die große Drehtür hinaus auf das offene Schulgelände, und Florian sah auf
dem Pausenhof die Schüler in mehreren Grüppchen zusammenstehen. Er bat die Rektorin,
ihn allein mit den Schülern zu lassen, denn er wusste, dass ihre Anwesenheit sie
einschüchtern würde. Nachdem sie gegangen war, schlenderte er auf eine Gruppe zu,
stellte sich vor, und nach ein wenig Geplänkel stellte er die ersten Fragen. Sie
fanden es cool , mit jemandem vom Fernsehen zu sprechen und gaben bereitwillig
Auskunft. Die Antworten waren sehr unterschiedlich und reichten von: Lernen ist
doof bis hin zu Lernen macht Spaß , von Ich will morgens nicht zur
Schule bis hin zu Diese Schule ist toll . Er nahm sich vor, ein Kamerateam
hierher zu schicken und diese Fragen und natürlich noch ein paar andere für einen
Zuspielfilm zu stellen.
Sein Blick
fiel auf eine schattige Ecke des Pausenhofs, wo mehrere Mädchen zusammenstanden,
und plötzlich sah er sie. Sie streifte ihn mit einem unbeteiligt wirkenden Blick
und schaute gleich gelangweilt wieder weg. Florian war sich nicht sicher, ob sie
ihn wiedererkannt hatte. Auf der Beerdigung ihrer Mutter war sie vielen fremden
Menschen begegnet und sie hatte in viele fremde Gesichter gesehen. Er sah sich um.
Erstaunlich viele Kinder waren olivhäutig wie sie. Schwarzes, glattes Haar, schwarze
Augen, kleiner Wuchs.
»Kommen
Sie, dieses Mädchen fragen Sie besser nicht. Sie braucht ihre Ruhe. Ihre Mutter
ist erst vor einer Woche gestorben.« Ohne dass er ihr Kommen bemerkt hätte, war
die Rektorin neben ihn getreten. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und dann zog
sie ihn mit leichtem Druck zurück. Offenbar hatte sie es auf einmal sehr eilig,
ihn vom Pausenhof zu führen.
»Wie schrecklich.
Woran ist sie gestorben?« Florian stellte sich unwissend.
»Ach, das
ist eine lange Geschichte.« Die Rektorin machte eine unbestimmte Handbewegung. »Es
kam sehr plötzlich für das Kind.«
»Das tut
mir leid. Wie
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