Zirkus Mortale: Kriminalroman (German Edition)
diese Berührung der erste Lohn war für all ihre Mühen.
Luz’ Haar duftete nach Honig, und sie wusste, dass sie ihrem Ziel ein kleines Stück
näher gekommen war. Sie, die unbedeutende Indigena aus einem kleinen Dorf bei Cobán.
Dele holte
tief Luft. Luz sprach nicht viel, so dass sie jede Information aus ihr herauskitzeln
musste, aber sie hatte die Hoffnung nicht verloren, dass das Kind ihr bald mehr
über ihren Alltag und ihre Familie verraten würde. Sie hatte sie gefragt, ob ihre
Mutter gut zu ihr gewesen war, ob sie sich eine Schwester oder einen Bruder wünschte,
auch, wie oft der Vater nach Amerika fuhr, aber Luz hatte die Fragen alles andere
als aufschlussreich beantwortet. Bei der ersten hatte sie geschwiegen und den Kopf
gesenkt, auf die zweite hatte sie mit sehr geantwortet, war dann aber wieder
verstummt. Je mehr Dele in sie drang, desto weniger hatte das Mädchen reagiert,
und schließlich hatte sie den Versuch aufgegeben. In Erinnerung daran seufzte sie
leise und streckte den Rücken.
Die Holzbänke,
auf denen sie saßen, hatten keine Lehne und sie spürte, dass sie von der gekrümmten
Haltung Kreuzschmerzen bekam. Was sie benötigte, war Geduld, und das hieß nichts
anderes, als dass sie Zeit brauchte, doch allmählich regte sich die Sorge in ihr,
dass die Zeit nicht reichen würde. Der Zirkus würde in zwei Wochen weiterziehen,
und dann? Würde sie eine andere Arbeitsstelle finden? Ihre Hand tastete nach dem
Beutel, den sie auf der Brust unter ihrem Kleid trug, und sie spürte die harten
Glieder der Armbanduhr darin. Vielleicht würde sie sie verkaufen. Dele spreizte
die Hand über der Brust und spürte ihr Herz schlagen. So schwierig sich auch alles
gestaltete: Es gab einen Grund, weswegen sie hier in der Fremde war, und der verlieh
ihr die Kraft, durchzuhalten.
Bevor die
Vorstellung begann, hatte sie Zeit gefunden, Luz über das Zirkusgelände zu führen.
Zuerst hatte sie ihr das Zirkuszelt mit seinem neuen blau-weißen Dach gezeigt, wo
gerade ein Licht- und Soundcheck durchgeführt wurde. Auf dem Vorplatz hatten sie
dann Gino getroffen. Das Ciao Bella war ihm vor Verwunderung im Hals stecken
geblieben, und in seinen Augen hatte sie die stumme Frage gelesen, was sie mit diesem
Kind zu schaffen hatte. Sie hatte jedoch nur knapp den Kopf geschüttelt, und er
hatte verstanden. Kurz darauf hatte er schon wieder gelächelt und Luz gezeigt, welche
Kunststücke man mit einem einzigen Ball vollbringen kann. Dabei hatte er Grimassen
geschnitten, war auf und ab gesprungen und hatte sie beide zum Lachen gebracht.
Schließlich hatte auch Dele gewagt, etwas vorzuführen, sie hatte fünf Bälle benutzt,
und Gino hatte vor Überraschung beinahe die Sprache verloren. Es waren fröhliche
Minuten gewesen, und Dele hatte die Welt um sich herum vergessen.
In der Manege
fand jetzt ein Umbau statt, und die damit verbundene Unruhe holte sie in die Gegenwart
zurück. Eine junge, grazile Artistin rollte auf einem bunten Ball herein, die Zuschauer
klatschten. Plötzlich spürte Dele in ihrem Rücken einen Blick, der sich dunkel und
schwer auf ihren Nacken legte. Instinktiv wandte sie sich um. Sie sah, wie der Mann
den Kopf drehte und sofort wieder geradeaus starrte, hin zur Manege. Sein Blick
war ein böser Blick gewesen, nicht von der Art, wie ein Mann ihn einer Frau zuwarf,
die sein sexuelles Interesse geweckt hatte. Sie spürte den Blick immer wieder und
bald war sie ganz sicher, dass der Mann sie beobachtete. Einen Augenblick fürchtete
sie, er wolle sie wegen der Armbanduhr zur Rede stellen, doch dann schalt sie sich
einen Dummkopf. Davon konnte er nichts wissen. Sie versuchte, sich den Mann einzuprägen,
aber er saß schräg hinter ihr im Halbschatten, so dass sie nicht mehr als sein Profil
erkennen konnte. Sie registrierte, dass er kurze Haare hatte, eine Hakennase und
ein markantes Kinn. Jedes Mal, wenn sie zu ihm hinüber sah, wandte er sich wie unbeteiligt
weg.
Deles Herz
klopfte. Irgendwo auf dem Bodensatz ihres Bewusstseins lag eine Erinnerung an ihn,
und sie zog und zerrte daran, doch ohne Erfolg. So wie man täglich Hunderten von
Menschen begegnet, auf sie zu- und an ihnen vorübergeht, so war auch dieser Mann
ihr schon begegnet. Dele war sicher, sie krampfte die Hände zusammen. Doch je länger
sie darüber nachdachte, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte, desto mehr entglitt
ihr die Lösung. Als die Vorstellung beendet war und sie mit Luz dem Ausgang zustrebte,
saß er nicht mehr an seinem Platz.
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