Zirkus zur dreizehnten Stunde
ruhiger.“ Ein Lachen erklang. „Gesprochen hat sie ja ohnehin nicht viel.“ Er drehte sich schließlich um. „Sie wird keine Opfer fordern können. Nicht in diesem Zirkus.“
Kismet nickte, war mit ihren Gedanken jedoch woanders. Das Mädchen schlummerte. Es atmete gleichmäßig und die Spinnen behoben die begangene Zerstörung. Vielleicht konnte sie nun wirklich ausruhen. Zum ersten Mal in ihrem Leben …
„Verzeih mir Clotho“, flüsterte Kismet und strich ihr durch die Haare. „Ich wollte dir niemals wehtun.“
6. XIX – Die Sonne
Für Lillian hatte sich eine völlig neue Welt aufgetan. Die Wesen hier lebten in absolutem Einklang zusammen, halfen sich gegenseitig, unterstützten einander und niemand störte sich an den Macken und Eigenarten des anderen. Es gab Kinder, Jugendliche, Erwachsene und auch Ältere.
Bereits am ersten Tag fand sie sich recht einfach in die ganze Gruppe ein. Mehr als sie beabsichtigt hatte. Es war eher ein Zufall. Sie war gerade aufgestanden, hatte sich ein wenig umgesehen, als ihr eine Gruppe junger Mädchen auffiel, die ein wenig verzweifelt an einer Tanzchoreographie für die Auftritte arbeitete.
„Warum klappt dieser Übergang denn nicht?“, eines der Mädchen stampfte auf. „So schwer kann das alles doch gar nicht sein.“
„Du triffst einfach den Takt nicht, Jasmin“, eine andere schüttelte seufzend den Kopf.
Wie kleine Hexen meckerten sie sich an. Lillian trat schließlich hinzu. Zurückhaltend zunächst, doch kaum hatte sie sich bemerkbar gemacht, galt alle Aufmerksamkeit ihr.
Zuviel Aufmerksamkeit! Lillian schluckte, doch sie war schon der Mittelpunkt, also konnte sie keinen Rückzieher mehr machen.
„Vielleicht kann ich euch helfen.“ Mit einem Schlag herrschte Stille. „Die … Bewegungen“, ein kurzes Stocken, dann unterstrich sie ihre Worte mit Gesten. „Sie sollten vielleicht etwas weicher werden.“ Ein Schritt nach rechts, eine leichte Drehung mit gebeugtem Oberkörper, gefolgt von einem ausholenden Kreis mit den Händen.
Stille!
Sie hatte sich zu viel eingemischt. Eindeutig. Ihr wurde unbehaglich. „Entschuldigt, ich wollte nicht“, Lillian sah wie die Blicke der Mädchen regelrecht an ihr klebten.
„Nein, nein, nein“, sofort kam diejenige, die mit Jasmin angesprochen worden war, zu ihr. „Zeig mir das noch mal. Hiermit!“ Sie hielt ein langes, feines Tuch unter Lillians Nase.
Verblüfft starrte die Füchsin es einen Moment lang an. Vorsichtig nahm sie es. Sie bewegte sich sanft und ließ den Stoff um sich tanzen. Aus einem Schritt wurde eine Bewegung, aus einer Bewegung wurde ein Gefühl und das ließ sich nicht mehr aufhalten. Es entstanden wie von alleine Figuren und Posen und dann erklang die Musik. Die Schleier tanzten um sie herum, als würden sie aus Rauch bestehen. Die kleinste Bewegung genügte und sie tanzten wieder in die Höhe, blieben dort wie Nebel hängen.
Magie lag in der Luft. Ton fügte sich an Ton, genau wie jeder Schritt den nächsten forderte. Alles war weich und elegant bis sie nach einem letzten Aufwallen in der Endpose verharrte.
Der Stoff sank in ihre erhobene Hand und mit einem Tosen brach der Applaus los. Erst jetzt sah sich Lillian um und erschrak. Der Platz war voll und alle strahlten sie an. Sie hatte es nicht bemerkt. Wie konnte sie eine solche Menge denn nur übersehen?
Etwas eingeschüchtert wich sie zurück, doch kam nicht weit.
„ Mylady“, ein Mann, mit einem Schnurrbart und Hut, kam auf sie zu und ergriff ihre Hand. „Welch fantastischer Auftritt.“ Er verbeugte sich, hauchte einen zarten Kuss auf ihre Haut.
Alles war unheimlich schnell gegangen. Maurice, so sein Name, hatte sie regelrecht entführt und wollte, dass sie ein Teil der großen Show wurde.
Auftritte in der Öffentlichkeit. Ein fester Platz in dem Zelt, das die Hauptattraktionen barg. Ein Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es hatte sie völlig erschlagen. Die ersten Minuten hatte Lillian einfach nur mit zuckenden Ohren vor ihm gesessen und sich alles angehört. Fasziniert von seiner Stimme und gebannt von seinen Gesten. Ein Nicken war alles, was sie als erste Antwort zustande gebracht hatte.
„Die Unsicherheit wird verfliegen“, hatte er gesagt und ihr zugelächelt. Ihre Zusage passierte schneller, als sie beabsichtigt hatte, wohl auch schneller als sie begriffen hatte. Was hatte er nur mit ihr angestellt?
Es war egal. Sie gehörte dazu. Bereits am zweiten Tag. Sie kannte nur einige Namen, hatte von niemandem wirklich ein
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