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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ziemliche Leistung. Aber die aus Gujarat stammenden Patels in Vijays
Familie waren Kaufleute – sie hätte das nicht beeindruckt. Vijay war von ihnen ebenso
abgeschnitten – sie hatten ihre Geschäfte in Nairobi – wie Nancy von Iowa.
    Nachdem Nancy die
Visitenkarte des Polizeibeamten wieder und wieder gelesen hatte, ging sie auf den
Balkon hinaus und schaute eine Zeitlang den Bettelkindern zu. Sie führten wagemutige
Kunststückchen vor, die in ihrer Monotonie irgendwie beruhigend wirkten. Wie die
meisten Ausländer ließ sich Nancy von den Schlangenmenschen leicht beeindrucken.
    Gelegentlich warf
ein Hotelgast den Kindern eine Orange oder Banane hinunter; einige warfen auch Münzen.
Nancy fand es grausam, wie ein verkrüppelter Junge mit einem Bein und einer gepolsterten
Krücke von den anderen Kindern geschlagen wurde, wenn er humpelnd und stolpernd
versuchte, sich vor ihnen das Geld oder das Obst zu schnappen. Sie durchschaute
nicht, daß die Rolle des Krüppels genau festgelegt und er selbst unverzichtbarer
Bestandteil des dramatischen Geschehens war. Er war nicht nur älter als die anderen
Kinder, er war auch ihr Anführer. In Wirklichkeit konnte er sie alle zusammenschlagen
– was er gelegentlich auch tat.
    [342]  Aber die mitleiderregende
Situation war für Nancy ungewohnt; sie suchte etwas, was sie ihm hinunterwerfen
konnte, fand aber nur einen Zehn-Rupien-Schein. Das war zuviel Geld für einen Bettler,
aber sie wußte es nicht besser. Sie beschwerte den Geldschein mit zwei Haarklammern,
trat auf den Balkon hinaus und hielt das Geld hoch, bis der verkrüppelte Junge auf
sie aufmerksam wurde.
    »He, Lady!« rief
er. Die meisten Kinder unterbrachen ihre Handstände und Schlangennummern, und Nancy
ließ den Zehn-Rupien-Schein davonsegeln; er geriet in einen Aufwind, flog kurz in
die Höhe, bevor er zu Boden flatterte. Die Kinder rannten hin und her und versuchten,
an der richtigen Stelle zu stehen, um ihn aufzufangen. Der verkrüppelte Junge schien
sich damit zufriedenzugeben, daß sich ein anderes Kind das Geld schnappte.
    »Nein, es ist für
dich! Für dich!« rief Nancy ihm zu, aber er achtete gar nicht auf sie. Ein großes
Mädchen, eines der Schlangenkinder, fing den Zehn-Rupien-Schein auf. Sie war so
überrascht über den Betrag, daß sie dem verkrüppelten Jungen das Geld nicht schnell
genug aushändigte, und so schlug er ihr mit seiner Krücke ins Kreuz – ein Hieb,
dessen Kraft ausreichte, um sie auf Hände und Knie sinken zu lassen. Dann schnappte
sich der Krüppel das Geld und hoppelte von dem Mädchen weg, das zu weinen begonnen
hatte.
    Nancy wurde klar,
daß sie den üblichen Ablauf des Schauspiels gestört hatte; irgendwie war sie im
Unrecht. Als sich die Bettler zerstreuten, näherte sich einer der großen Sikh-Portiers
vom Taj Mahal dem weinenden Mädchen. Er trug eine lange Holzstange mit einem blitzenden
Messinghaken – sie diente zum Öffnen und Schließen der Oberlichter über den hohen
Türen – und hob damit den ausgefransten Rocksaum ihres zerrissenen, schmutzigen
Kleides hoch. Geschickt entblößte er sie, bevor es ihr gelang, den Rock zwischen
die Beine zu klemmen und sich zu [343]  bedecken. Dann stieß er dem Mädchen die Stange
mit dem Messingende in die Brust, und als sie aufzustehen versuchte, versetzte er
ihr einen kräftigen Hieb aufs Kreuz, genau an die Stelle, auf die der Krüppel mit
seiner Krücke geschlagen hatte. Das Mädchen schrie auf und hastete auf allen vieren
davon. Der Sikh verfolgte sie ausgesprochen gewandt und trieb sie mit spitzen Stockstichen
und -stößen vor sich her. Endlich kam sie auf die Beine und lief ihm davon.
    Der Sikh hatte einen
dunklen, spatenförmig geschnittenen, silbergesprenkelten Bart und trug einen dunkelroten
Turban. Er schulterte die Stange für die Oberlichter wie ein Gewehr und warf Nancy
auf dem Balkon einen flüchtigen Blick zu. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, überzeugt,
daß er ihr unter den Schlafrock und geradewegs in den Schritt hatte sehen können,
da er direkt unter ihr stand. Aber natürlich verhinderte der Balkon einen solchen
Einblick. Nancy bildete sich alles nur ein.
    Offenbar gibt es
Regeln, dachte sie. Die Bettler durften betteln, aber heulen durften sie nicht.
Es war noch früh am Morgen, und das Geheul würde die Gäste aufwecken, denen es gelungen
war zu schlafen. Nancy bestellte sich umgehend das Amerikanischste, was sie auf
der Speisekarte des Zimmerservice entdecken konnte – Rühreier mit Toast –,

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