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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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meinte, es sei cooler, mit einem Mädchen dort aufzukreuzen, als wie ein Verlierer
auszusehen, denn so wurde man offenbar eingeschätzt, wenn man allein ankam.
    Da es im Häuschen
nichts anderes zu essen gab als Bananen, aß Nancy drei Bananen. Dann machte sie
sich Tee. Danach ging sie ein paarmal hin und her, um Wasser für ein Bad zu holen.
Obwohl sie sich wieder ziemlich gesund fühlte, war sie erstaunt, wie müde sie nach
der Wasserschlepperei war, und da das Fieber verschwunden war, begann sie in der
Wanne zu frösteln.
    Nach dem Bad ging
sie hinaus zu der Kühlhütte aus Palmblättern, trank etwas Zuckerrohrsaft aus der
Flasche und hoffte, daß er keinen neuerlichen Durchfall verursachte. Es blieb ihr
nichts anderes übrig, als zu warten, bis Dieter und Beth zurückkamen. Sie versuchte
in den Upanishaden zu lesen, aber sie hatte mehr damit
anfangen können, solange sie noch Fieber gehabt und Beth ihr daraus vorgelesen hatte.
Außerdem hatte sie zum Lesen eine Öllampe angezündet, die in Windeseile Tausende
von Moskitos anlockte. Und dann stieß sie in der »Kathaka-Upanishad« auf eine ärgerliche
Passage, in der, wie ein Refrain, ein irritierender Satz wiederholt wurde: »Dieses
ist in Wahrheit jenes.« Sie fürchtete, dieser Satz würde sie wahnsinnig machen,
wenn sie ihn noch öfter las. Also blies sie die Öllampe aus und verkroch sich unter
ihr Moskitonetz.
    Den Klappspaten
legte sie neben sich ins Bett, weil sie sich nachts allein in dem Häuschen fürchtete.
Sie fühlte sich nicht nur von Banditen bedroht, ganzen Horden, sondern hinter dem [371]  Spiegel im Bad hauste auch noch ein Gecko, der immer wieder über Decke und Wände
geflitzt war, während Nancy gebadet hatte. Heute abend hatte sie den Gecko nicht
gesehen. Sie hätte zu gern gewußt, wo er war.
    Solange sie fieberte,
hatte sie gerätselt, was es mit den sonderbaren Fratzen auf der Oberkante der Trennwand
auf sich hatte, die ihre Schatten an die Decke warfen. In einer Nacht waren die
Fratzen verschwunden, ein andermal war es nur eine gewesen. Jetzt, nachdem das Fieber
gewichen war, wurde ihr klar, daß sich die »Fratzen« fast ständig bewegten – es
waren Ratten. Offenbar gefiel ihnen die gute Aussicht, die sie von dort oben auf
beide Betten hatten. Nancy beobachtete sie, bis sie einschlief.
    Allmählich begriff
sie, daß sie weit, weit von Bombay weg war und daß Bombay weit weg war von allem
anderen. Nicht einmal der junge Vijay Patel – Polizeiinspektor, Polizeiwache Colaba
– konnte ihr hier helfen.

[372]  13
    Kein Traum
    Eine wunderschöne Fremde
    Als Nancys
Fieber zurückkehrte, wachte sie nicht von Schweißausbrüchen auf, sondern vom Schüttelfrost.
Sie wußte, daß sie phantasierte, weil es unmöglich stimmen konnte, daß eine wunderschöne
Frau in einem Sari auf ihrer Bettkante saß und ihre Hand hielt. Sie mochte Anfang
Dreißig sein und war unglaublich schön, und ihr zarter Jasminduft hätte Nancy verraten
müssen, daß diese herrliche Erscheinung keinem Fieberwahn entsprungen sein konnte.
Eine so wunderbar duftende Frau konnte man unmöglich nur träumen. Als sie zu sprechen
begann, zweifelte Nancy denn doch daran, daß es sich um eine Halluzination handelte.
    »Du bist die, die
krank ist, nicht wahr?« fragte die Frau. »Und sie haben dich ganz allein gelassen,
stimmt’s?«
    »Ja«, flüsterte
Nancy, die so heftig zitterte, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen. Obwohl sie den
Spaten fest umklammert hielt, bezweifelte sie, daß sie die Kraft aufbringen würde,
ihn zu heben.
    Dann, wie so oft
in Träumen, geschah etwas ohne Übergang, ohne logische Abfolge: Die wunderschöne
Frau wand sich aus ihrem Sari – sie zog ihn vollständig aus. Selbst bei dem gespenstisch
blassen Mondlicht hatte ihre Haut die Farbe von Tee, und ihre Arme und Beine sahen
so glatt und hart aus wie aus edlem Holz, aus Kirschbaumholz. Ihre Brüste waren
kaum größer als die von Beth, aber viel fester, und als sie unter das Moskitonetz
und zu Nancy ins Bett schlüpfte, ließ Nancy den Spaten los und erlaubte der schönen
Frau, sie zu umarmen.
    [373]  »Sie hätten dich
nicht allein lassen dürfen, findest du nicht?« fragte sie Nancy.
    »Nein«, flüsterte
Nancy. Ihre Zähne hatten zu klappern aufgehört, und auch das Zittern ließ in den
starken Armen der schönen Frau nach. Zunächst lagen sie mit einander zugewandten
Gesichtern da, die festen Brüste der Frau an Nancys weichem Busen, die Beine verschlungen.
Dann rollte sich Nancy auf die andere

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