Zirkuskind
daß sein sexuelles Interesse erloschen war. Er machte sich über sie
lustig, vielleicht war er auch nur neugierig.
»Ist dieses böse
Fieber wieder da?« fragte Rahul.
»Ich träume andauernd«,
sagte Nancy.
»Ja, natürlich,
Liebes«, sagte Rahul.
»Ich versuche dauernd
zu schlafen, aber statt dessen träume ich dauernd«, klagte Nancy.
»Sind es denn schlimme
Träume?« wollte Rahul wissen.
»Ziemlich schlimm«,
sagte Nancy.
»Möchtest du mir
davon erzählen, Liebes?« fragte Rahul.
»Ich möchte nur
schlafen«, erwiderte Nancy. Zu ihrer Verwunderung ließ er das zu. Er schob das Moskitonetz
beiseite und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Er massierte sie zwischen
den Schulterblättern, bis das Zittern aufhörte und Nancy so ruhig und regelmäßig
atmen konnte, als würde sie tief schlafen – sie machte sogar den Mund leicht auf
und versuchte sich vorzustellen, daß sie bereits tot sei. Rahul küßte sie einmal
auf die Schläfe und einmal auf die Nasenspitze. Endlich spürte sie, wie sich sein
Gewicht vom Bett hob. Außerdem spürte sie den Spaten, den er behutsam wieder in
ihre Hände legte. Obwohl sie weder gehört hatte, wie die Tür geöffnet, noch wie
sie geschlossen wurde, wußte sie, daß Rahul fort war, sobald sie die Ratten unbekümmert
im Häuschen herumflitzen hörte. Sie schlüpften sogar unter ihr Moskitonetz und hüpften
über ihr Bett, als wären sie fest davon überzeugt, daß sich drei Tote im Zimmer
befanden und nicht nur zwei. Da wußte Nancy, daß sie unbesorgt aufstehen konnte.
Wäre Rahul noch dagewesen, hätten die Ratten das gemerkt.
Im schwachen Licht
vor der Morgendämmerung sah Nancy, daß Rahul den Wäschestift des dhobi – und die wasserfeste Wäschetinte
– benutzt hatte, um Beths Bauch zu verzieren. Bei dem Markierstift handelte es sich
um einen Federhalter aus rohem Holz mit einer einfachen, breiten Feder; die Wäschetinte
war [379] schwarz. Rahul hatte das Tintenfaß und den Federhalter an Nancys Kopfende
liegengelassen. Nancy erinnerte sich, daß sie beide Gegenstände in die Hand genommen
hatte, bevor sie sie wieder zurücklegte. Auch auf dem Spatengriff waren überall
ihre Fingerabdrücke.
Obwohl Nancy unmittelbar
nach ihrer Ankunft krank geworden war, hatte sie den deutlichen Eindruck, daß sie
sich hier in einer recht ländlichen Gegend befand. Sie bezweifelte, daß es ihr gelingen
würde, die hiesige Polizei davon zu überzeugen, daß eine wunderschöne Frau mit dem
Penis eines kleinen Jungen Dieter und Beth ermordet hatte. Und Rahul war schlau
genug gewesen, Dieters Geldgürtel nicht auszuleeren, sondern ihn mitzunehmen. Sonst
gab es keinerlei Hinweise auf einen Diebstahl. Beths Schmuck war unangetastet, und
in Dieters Brieftasche befand sich sogar noch etwas Geld. Ihre Pässe waren auch
nicht gestohlen worden. Nancy wußte, daß sich das meiste Geld im Dildo befand, den
sie gar nicht erst aufzumachen versuchte, weil Dieters Blut darauf getropft war
und er sich ganz klebrig anfühlte. Sie wischte ihn mit einem feuchten Handtuch ab
und packte ihn zu ihren Sachen in den Rucksack.
Sie war überzeugt,
daß Inspektor Patel ihr glauben würde – vorausgesetzt, es gelang ihr, nach Bombay
zurückzukehren, ohne zuvor von der hiesigen Polizei festgenommen zu werden. Oberflächlich
betrachtet würde man es für ein Verbrechen aus Leidenschaft halten, dachte Nancy
– für eine jener Dreiecksbeziehungen, bei denen etwas schiefgelaufen war. Und die
Zeichnung auf Beths Bauch verlieh den Morden einen Hauch von Diabolik oder verriet
zumindest eine Vorliebe für einen gewissen Sarkasmus. Der Elefant war erstaunlich
klein und schlicht – eine Vorderansicht. Der Kopf war breiter als hoch, die Augen
waren unterschiedlich, und eines zwinkerte – ja, eines sah irgendwie faltig aus,
dachte Nancy. Der Rüssel hing schlaff nach unten, und von der Rüsselspitze ausgehend
hatte der Künstler fächerförmig [380] mehrere dicke Linien gezogen – eine kindliche
Art anzudeuten, daß aus dem Elefantenrüssel Wasser spritzte wie aus einem Duschkopf
oder einer Schlauchdüse. Die Striche reichten bis in Beths Schamhaar hinein. Die
ganze Zeichnung war nicht größer als eine kleine Hand.
Dann wurde Nancy
klar, warum die Zeichnung insgesamt etwas schräg stand und ein Auge »faltig« wirkte.
Dieses Auge war Beths mit Wäschetinte ummalter Nabel, während das andere eine unvollkommene
Nachahmung des Nabels war. Und weil der Nabel eine Mulde bildete, sahen die Augen
nicht gleich aus.
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