Zirkuskind
aber ihre Kehle gab keinen Laut von sich. Es war genau so, wie
man Dieter in Bombay gesagt hatte: Du fährst nicht nach Goa, um Rahul zu finden,
sondern um dich von Rahul finden zu lassen. In einer Beziehung hatte Dieter recht
gehabt: Es gab wirklich solche Gänschen mit Schwänzchen. Rahul war also doch kein hijra, sondern ein zenana .
Nancy hörte, wie
Dieter im Bad im Halbdunkeln nach dem Dildo suchte. Dann hörte sie eine Flasche
auf dem Steinboden zerbrechen. Vermutlich hatte Dieter sie auf den schmalen Rand
der Badewanne gestellt. Da nicht viel Mondlicht ins Bad drang, mußte er den Dildo
wahrscheinlich mit beiden Händen suchen. [376] Dieter stieß einen kurzen Fluch aus,
auf deutsch, wie Nancy vermutete, da sie ihn nicht verstand.
Beth, die anscheinend
ganz vergessen hatte, daß Nancy vermeintlich schlief, rief Dieter nach: »Hast du
dein Cola runtergeschmissen, Dieter?« Gleichzeitig brach sie in unbekümmertes Gekicher
aus; Dieter war nämlich süchtig nach Coca-Cola.
»Schsch!« machte
Dieter im Bad.
»Schsch!« wiederholte
Beth und versuchte vergeblich, das Lachen zu unterdrücken.
Als nächstes hörte
Nancy das Geräusch, vor dem sie Angst gehabt hatte, aber es war ihr nicht gelungen,
ihre Stimme wiederzuerlangen – um Dieter zu warnen, daß da noch jemand war. Sie
war überzeugt, daß das, was sie hörte, der Spaten war, der – wie es klang – mit
voller Wucht auf Dieters Schädel niedersauste. Auf den Schlag folgte ein metallischer
Nachhall, doch Dieters Sturz verursachte erstaunlich wenig Lärm. Dann hörte man
einen zweiten gewaltsamen Schlag, fast als würde jemand einen Spaten oder eine schwere
Schaufel gegen einen Baumstumpf schleudern. Nancy realisierte, daß Beth nichts gehört
hatte, weil sie so kräftig an der Ganjapfeife zog, als wäre die Glut erloschen,
und sie wollte versuchen, sie wieder anzufachen.
Nancy lag völlig
reglos da und hielt den nach Jasmin duftenden Sari im Arm. Die gespenstische Gestalt
mit den kleinen, hohen Brüsten und dem Penis eines kleinen Jungen ging geräuschlos
ganz dicht an Nancys Bett vorbei. Kein Wunder, daß Rahul »Pretty« genannt wurde,
dachte Nancy.
»Beth!« versuchte
Nancy zu rufen, aber wieder ließ ihre Stimme sie im Stich.
Von der anderen
Seite der Trennwand drang plötzlich Licht in kleinen Flecken durch das Gitterwerk.
Es warf die Schatten der aufgeschreckten Ratten an die Decke. Nancy konnte durch
das Gitter sehen, daß Beth das Moskitonetz ganz zurückgeschlagen hatte, um eine
Öllampe anzuzünden. Sie suchte gerade [377] frisches Ganja für die Pfeife, als die
nackte, teefarbene Gestalt neben ihrem Bett auftauchte. Rahuls große Hände hielten
den Spaten so hinter dem Rücken, daß sich der Griff in die zarte Mulde im Kreuz
schmiegte und das Blatt gut versteckt zwischen den Schulterblättern ruhte.
»Hi«, sagte Rahul
zu Beth.
»Hi. Wer bist du?«
sagte Beth. Dann schnappte sie nach Luft, was Nancy veranlaßte, nicht weiter durch
die Löcher im Gitter zu schauen. Sie lag auf dem Rücken, den jasminduftenden Sari
auf dem Gesicht; an die Decke wollte sie auch nicht schauen, weil sie wußte, daß
dort die Schatten der Ratten zuckten.
»He, du, was bist
du eigentlich?« hörte sie Beth fragen. »Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«
»Ich bin hübsch,
nicht wahr?«, sagte Rahul.
»Auf alle Fälle
bist du… anders«, antwortete Beth.
Aus dem folgenden
Geräusch des Spatens schloß Nancy, daß es Rahul nicht gefiel, als »anders« bezeichnet
zu werden. Sein bevorzugter Spitzname war »Pretty«. Nancy schob den duftenden Sari
aus dem Bett und unter dem Moskitonetz hindurch. Sie hoffte, daß er etwa dort auf
dem Boden landen würde, wo Rahul ihn fallen gelassen hatte. Dann lag sie mit offenen
Augen da und starrte an die Decke, wo die Schatten der Ratten hin und her huschten.
Fast kam es ihr vor, als wären der zweite und der dritte Schlag mit dem Spaten eine
Art Startsignal für die Ratten gewesen.
Später rollte sich
Nancy leise auf die Seite, so daß sie durch das Gitter linsen und sehen konnte,
was Rahul machte. Zunächst sah es aus, als führte er eine Art Operation an Beths
Bauch durch, doch bald erkannte Nancy, daß er Beths Bauch bemalte. Sie schloß die
Augen und wünschte, das Fieber möge zurückkehren; obwohl sie nicht mehr fieberte,
hatte sie solche Angst, daß sie zu zittern begann. Dieses Zittern rettete sie. Als
Rahul an ihr Bett trat, klapperten ihre Zähne so unkontrollierbar wie zuvor. [378] Nancy
spürte sofort,
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