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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Bei näherer Betrachtung schien ein Auge zu zwinkern – Beths Nabel.
Verstärkt wurde der fröhliche, spöttische Abdruck des Elefanten noch dadurch, daß
ein Stoßzahn ganz normal nach unten hing, während sein Gegenstück nach oben zeigte,
fast als könnte ein Elefant seinen Stoßzahn so heben wie ein Mensch seine Augenbraue.
Es war ein kleiner, verschmitzter Elefant – ohne Zweifel ein Elefant mit einem unpassenden
Sinn für Humor.
    Die Flucht
    Nancy
zog Beths Leiche das Top an, das das Mädchen getragen hatte, als sie sie im Bus
getroffen hatten; wenigstens bedeckte es die Zeichnung. Die heilige yoni ließ sie an Ort und Stelle, an Beths
Hals, als könnte sie sich in der nächsten Welt vielleicht als erfolgreicherer Talisman
erweisen als in dieser.
    Die Sonne ging im
Landesinneren auf, und gelbbraunes Licht sickerte durch die Areka- und die Kokospalmen,
die den Großteil des Strandes überschatteten – ein Segen für Nancy, die über eine
Stunde mit dem Spaten werkelte. Trotzdem gelang es ihr nur, eine flache Grube in
der Nähe der Gezeitenmarke für Hochwasser zu graben. Die Grube hatte sich bereits
halb mit [381]  Wasser gefüllt, als sie Dieters Körper über den Strand schleifte und
in das Loch rollte. Als Beths Leiche endlich neben seiner lag, bemerkte Nancy die
Blaukrabben, die sie beim Graben an die Oberfläche befördert hatte und die sich
jetzt hastig wieder eingruben. Sie hatte einen besonders weichen Sandstrich ausgewählt,
den Strandabschnitt, der dem Häuschen am nächsten lag. Erst jetzt wurde Nancy klar,
warum der Sand so weich war: Ein von den Gezeiten abhängiger Wasserlauf durchquerte
den Streifen Strand und floß in das Dschungelgestrüpp, wo er versickerte; sie hatte
zu dicht bei diesem Wasserlauf gegraben, was bedeutete, daß die Leichen nicht lange
vergraben bleiben würden.
    Schlimmer war, daß
sie in der Hast, mit der sie die zerbrochene Colaflasche im Bad weggeräumt hatte,
auf deren abgesplitterten Glasboden getreten war. Mehrere Scherben hatten sich in
ihre Fußsohle gebohrt und waren abgebrochen. Sie war davon ausgegangen, daß sie
alle Splitter herausgezogen hatte, doch in der Eile hatte sie ein paar übersehen.
Ihr Fuß hatte so heftig auf den Badvorleger geblutet, daß ihr nicht anders übrigblieb,
als ihn zusammenzurollen und (samt der zerbrochenen Flasche) in das Grab zu legen.
Sie vergrub ihn zusammen mit Dieters und Beths restlicher Habe, einschließlich Beths
silberner Armreifen, die Nancy viel zu klein waren, und ihrer geliebten Upanishaden, für die sich Nancy ohnehin nicht
interessierte.
    Nancy war überrascht
gewesen, daß es ungleich anstrengender war, das Grab auszuheben, als Dieters Leiche
zum Strand zu schleifen. Dieter war groß, wog aber weniger, als sie gedacht hatte.
Es kam ihr in den Sinn, daß sie ihn jederzeit hätte verlassen können; sie hätte
ihn einfach nur hochzuheben und an die Wand zu knallen brauchen. Sie fühlte sich
unglaublich stark, doch sobald sie das Grab zugeschaufelt hatte, war sie erschöpft.
    Um ein Haar wäre
sie in Panik geraten, als sie feststellte, daß sie die Kappe des silbernen Kugelschreibers
nicht finden konnte, den Dieter ihr geschenkt hatte und auf dem in Schreibschrift
der [382]  Länge nach MADE IN INDIA stand. Auf dem unteren Teil stand MADE IN , auf dem fehlenden Teil INDIA . Nancy hatte bereits die technische
Schwachstelle des Stifts erkannt: Die beiden Teile rasteten nur dann ein und hielten
zusammen, wenn sich der Schriftzug genau auf einer Linie befand; deshalb fielen
Ober- und Unterteil auch immer auseinander. Nancy durchsuchte das Häuschen nach
der fehlenden Kappe. Sie hielt es für unwahrscheinlich, daß Rahul sie mitgenommen
hatte – schließlich war das nicht der Teil des Stifts, mit dem man schreiben konnte.
Den hatte Nancy, und sie behielt ihn auch. Weil er klein war, fiel er in ihrem Rucksack
ganz nach unten. Aber wenigstens war er aus echtem Silber.
    Nancy wußte, daß
das Fieber endlich abgeklungen war, weil sie geistesgegenwärtig genug war, die Pässe
von Dieter und Beth an sich zu nehmen; außerdem machte sie sich klar, daß man ihre
Leichen bald finden würde. Wer immer Dieter das Häuschen vermietet hatte, wußte,
daß sie zu dritt gewesen waren. Vermutlich würde die Polizei davon ausgehen, daß
sie den Bus von Calangute oder die Fähre von Panjim aus nahm. Nancys Plan zeugte
von einem erstaunlich klaren Kopf. Sie wollte die beiden Pässe an einer auffälligen
Stelle an der Bushaltestelle in Calangute

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