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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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die am Telefon noch immer [406]  auf die Antwort des Doktors wartete, ungeduldig.
»Hallo?« sagte sie. »Ist jemand dran? Ist da der Doktor?« wiederholte sie.
    Obwohl Dr. Daruwalla
ein geborener Zauderer war, wußte er, daß sich Nancy nicht abweisen lassen würde.
Trotzdem ließ er sich nicht gern drängen. Unzählige dumme Bemerkungen kamen dem
heimlichen Drehbuchautor in den Sinn, klugscheißerische, rüpelhafte Witzeleien –
die üblichen Sprüche aus den alten Inspector-Dhar-Filmen. (»Schlimme Dinge waren
geschehen, noch schlimmere waren im Anzug.« Oder: »Die Frau war es wert – immerhin
wußte sie vielleicht etwas.« Oder: »Es war an der Zeit, die Karten auf den Tisch
zu legen.«) Obwohl sich Dr. Daruwalla jahrelang schlagfertige Formulierungen ausgedacht
hatte, wußte er einfach nicht, was er zu Nancy sagen sollte. Nach zwanzig Jahren
fiel es ihm schwer, lässig zu klingen, aber er machte einen halbherzigen Versuch.
    »Dann sind Sie es
also!« sagte er.
    Nancy, am anderen
Ende der Leitung, wartete einfach. Es war, als würde sie mindestens ein umfassendes
Geständnis erwarten. Farrokh fühlte sich ungerecht behandelt. Warum sollte Nancy
wollen, daß er sich schuldig fühlte? Er hätte wissen sollen, daß Nancys Sinn für
Humor nicht leicht zu orten war, aber er versuchte es läppischerweise trotzdem.
    »Na, was macht der Fuß?« fragte er sie. »Wieder ganz in Ordnung?«

[407]  14
    Zwanzig Jahre
    Eine komplette Frau, die Frauen verabscheut
    Das hohle
Echo von Dr. Daruwallas dümmlichem Scherz schien das Geräusch der Leere, das aus
dem Telefonhörer an sein Ohr drang, noch zu verstärken, denn Nancy sagte kein Wort.
Ihr Schweigen hallte wie bei einem Ferngespräch. Dann hörte Dr. Daruwalla Nancy
zu jemand anderem sagen: »Er ist es.« Ihre Stimme klang undeutlich, als hätte sie
die Sprechmuschel halbherzig mit der Hand abgedeckt. Farrokh konnte nicht wissen,
daß die zwanzig Jahre Nancy viel von ihrem Schwung geraubt hatten.
    Und doch hatte sie,
vor zwanzig Jahren, den jungen Inspektor Patel mit bewundernswerter Entschlossenheit
noch einmal aufgesucht, hatte ihm nicht nur den Dildo ausgehändigt und ihn über
die schmutzigen Einzelheiten von Dieters Delikten aufgeklärt, sondern ihr Geständnis
mit dem guten Vorsatz untermauert, sich zu ändern. Sie hatte ihm klargemacht, daß
sie danach strebte, ein Leben zu führen, mit dem sie das Unrecht wiedergutmachen
konnte, und ihm derart anschaulich erklärt, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen
fühlte, daß dem korrekten Polizisten erst mal die Spucke wegblieb. Außerdem war
es ihr, wie sie vorausgesehen hatte, gelungen, ein heftiges Verlangen in dem jungen
Patel zu wecken, dem er freilich nicht nachgab, da er sowohl ein höchst professioneller
Kriminalbeamter als auch ein Gentleman war – weder ein flegelhafter Footballspieler
noch ein abgestumpfter Europäer. Nancy wußte, daß sie die Initiative ergreifen mußte,
wenn die körperliche Anziehung zwischen ihr und Inspektor Patel jemals konkrete
Folgen haben sollte.
    [408]  Obwohl sie darauf
vertraute, daß sie den idealistischen Kriminalbeamten am Ende heiraten würde, trugen
bestimmte Umstände, die sich ihrem Einfluß entzogen, dazu bei, daß sich die Sache
verzögerte. Zum einen bereitete ihr Rahuls Verschwinden großen Kummer. Nachdem sie
sich gerade erst voller Eifer dazu bekannt hatte, nach Gerechtigkeit zu streben,
war sie zutiefst enttäuscht, daß Rahul nirgends zu finden war. Der angeblich mordgierige zenana, der es im Bordellviertel von Bombay
vorübergehend zu grausiger Berühmtheit gebracht hatte, war von der Falkland und
der Grant Road sowie aus Kamathipura verschwunden. Außerdem hatte Inspektor Patel
herausgefunden, daß der unter dem Namen Pretty bekannte Transvestit stets ein Außenseiter
gewesen war; die hijras – die wenigen, die ihn kannten – haßten ihn, und die anderen zenanas haßten ihn ebenfalls.
    Rahul hatte seine
Dienste zu einem ungewöhnlich hohen Preis verkauft, doch in Wirklichkeit hatte er
nur seine äußere Erscheinung verkauft. Sein gutes Aussehen, das sich aus der Kombination
von auffallender Weiblichkeit und überragender Körpergröße und -kraft ergab, machte
ihn zu einem attraktiven Aushängeschild für jedes Transvestitenbordell. Sobald sich
ein Kunde durch Rahuls Aussehen ins Bordell locken ließ, stellte sich heraus, daß
nur die anderen zenanas – oder hijras –
für sexuelle Kontakte zur Verfügung standen. Somit verband sich mit dem

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