Zirkuskind
Spitznamen
Pretty sowohl die ehrliche Anerkennung seiner unglaublichen Attraktivität als auch
ein abfälliges Urteil über seine Person; denn mit seiner Weigerung, mehr zu tun,
als sich zur Schau zu stellen, zeigte Rahul, daß er sich für alles andere zu gut
war – und beleidigte damit die Transvestiten-Prostituierten zutiefst.
Sie merkten, daß
es ihm egal war, daß er sie vor den Kopf stieß. Aber er war zu groß und kräftig
und selbstbewußt, um sich von ihnen einschüchtern zu lassen. Die hijras haßten ihn, [409] weil er ein zenana war, und die anderen zenanas haßten ihn, weil er die Absicht bekundet
hatte, eine »komplette« Frau zu werden. Und sämtliche Transvestiten-Prostituierten
haßten Rahul, weil er keine Prostituierte war.
Über Rahul kursierten
ein paar häßliche Gerüchte, auch wenn Inspektor Patel vergeblich nach Beweisen für
diese Behauptungen suchte. Etliche Transvestiten-Prostituierte behaupteten, Rahul
würde regelmäßig ein Frauenbordell in Kamathipura aufsuchen. Daß Rahul sich nur
aus Neugier und Voyeurismus in den Bordellen an der Falkland und der Grant Road
zur Schau stellte, brachte die Transvestiten noch mehr gegen ihn auf. Außerdem machten
abscheuliche Geschichten die Runde, wie Rahul mit den weiblichen Prostituierten
in Kamathipura umging; angeblich hatte er nie Sex mit den Mädchen, sondern verprügelte
sie. In diesem Zusammenhang war von einem elastischen Gummiknüppel die Rede. Falls
diese Gerüchte stimmten, konnten die geschlagenen Mädchen ihre Schmerzen lediglich
anhand roter, geschwollener Striemen nachweisen. Spuren dieser Art verschwanden
ziemlich schnell und wurden im Vergleich zu gebrochenen Knochen oder den schweren,
dunkel verfärbten Blutergüssen, die von härteren Waffen stammten, als Lappalie abgetan.
Die verprügelten jungen Mädchen konnten keinerlei Rechte geltend machen. Wer immer
Rahul war, er war schlau. Kurz nachdem er Dieter und Beth ermordet hatte, war er
auch aus dem Land verschwunden.
Inspektor Patel
ging davon aus, daß Rahul Indien verlassen hatte. Für Nancy war das kein Trost,
denn nachdem sie sich gegen das Böse und für das Gute entschieden hatte, erhoffte
sie sich eine Klärung des Falls. Es war ein Jammer, daß Nancy zwanzig Jahre auf
ein einfaches, aber aufschlußreiches Gespräch mit Dr. Daruwalla hatte warten müssen,
bei dem sich herausstellen sollte, daß sie beide die Bekanntschaft desselben Rahul
gemacht hatten. Doch nicht einmal von einem so hartnäckigen [410] Kriminalbeamten wie
Kommissar Patel konnte man erwarten, daß er erriet, daß der Mörder, der eine Geschlechtsumwandlung
durchgemacht hatte, im Duckworth Club zu finden gewesen wäre. Dazu kam, daß man
Rahul fünfzehn Jahre lang dort nicht antraf – zumindest nicht sehr oft. Er war häufiger
in London, wo er – nachdem seine langwierige und schmerzhafte operative Geschlechtsumwandlung
abgeschlossen war – mehr Energie und Konzentration auf das verwenden konnte, was
er seine Kunst nannte. Nur leider vermochten auch noch so viel Energie und Konzentration
seine Begabung und sein künstlerisches Spektrum nicht sonderlich zu erweitern; es
blieb bei dem karikaturistischen Niveau seiner Bauchzeichnungen. Seine Vorliebe
für freizügige Cartoons hielt an.
Rahuls stets wiederkehrendes
Thema war ein unangemessen fröhlicher Elefant mit einem erhobenen Stoßzahn, einem
zwinkernden Auge und dem nach unten zeigenden, Wasser verspritzenden Rüssel. Größe
und Form des Nabels des jeweiligen Opfers verlangten dem Künstler eine beträchtliche
Vielfalt zwinkernder Augen ab; Menge und Farbe des Schamhaars der Opfer variierten
ebenfalls. An dem Wasser aus dem Elefantenrüssel änderte sich nichts: Der Elefant
bespritzte, gleichgültig, wie es schien, alle in gleicher Weise. Viele der ermordeten
Prostituierten hatten ihr Schamhaar abrasiert, aber der Elefant schien das nicht
zu bemerken; oder es war ihm egal.
Doch bei Rahul war
es nicht damit getan, daß er eine perverse Phantasie hatte, sondern in seinem Innern
tobte ein regelrechter Kampf um seine wahre Geschlechtsidentität, die sich, zu seiner
Verwunderung, durch den erfolgreichen Abschluß der langersehnten Geschlechtsumwandlung
nicht nennenswert geklärt hatte. Jetzt war Rahul nach außen hin eine Frau. Er konnte
zwar keine Kinder bekommen, aber der Wunsch nach Kindern war auch nie der Grund
gewesen, warum er unbedingt eine Frau hatte werden wollen. Allerdings hatte sich
Rahul eingebildet, daß [411] ihm eine neue
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