Zirkuskind
Geschlechtsidentität auf die Dauer innere
Ruhe bescheren würde.
Rahul hatte es gehaßt,
ein Mann zu sein. Auch in Gesellschaft von Homosexuellen hatte er sich nie als einer
der Ihren gefühlt. Aber auch im Umgang mit anderen Transvestiten hatte er wenig
Vertrautheit gespürt; in der Gesellschaft von hijras oder zenanas hatte sich Rahul stets als anders
empfunden und überlegen gefühlt. Er kam gar nicht auf die Idee, daß sie zufrieden
waren mit dem, was sie waren, denn Rahul war noch nie zufrieden gewesen. Freilich
kann man ein drittes Geschlecht auf mehr als eine Art verkörpern, aber Rahuls Besonderheit
hatte ganz wesentlich mit seiner Gemeinheit zu tun, die auch die anderen Transvestiten
zu spüren bekamen.
Er verabscheute
die betont weiblichen Gesten der meisten hijras und zenanas und fand ihre ausgefallene Kleidung
weibisch und frivol. Daß die hijras die Kraft besitzen sollten, zu segnen oder zu verfluchen, die ihnen von alters her
zugeschrieben wurde, konnte und wollte Rahul nicht glauben. Vielmehr war er davon
überzeugt, daß sie sich mit Vorliebe zur Schau stellten, entweder zur selbstgefälligen
Belustigung gelangweilter Heterosexueller oder als Kitzel für eher konventionelle
Homosexuelle. Unter den Homosexuellen gab es zumindest einige wenige, die – wie
Rahuls verstorbener Bruder Subodh – unbedingt auffallen wollten. Sie hängten ihre
sexuelle Neigung nicht deshalb an die große Glocke, damit sich verklemmte Leute
darüber amüsieren konnten, sondern um die Intoleranten zu provozieren. Selbst so
dreiste Homosexuelle wie Subodh mußten sich die Zuneigung anderer Homosexueller
offenbar durch sklavische Unterwerfung erkaufen. Rahul hatte es widerlich gefunden,
wie mädchenhaft Subodh sich von Neville Eden hatte gängeln lassen.
Rahul hatte sich
eingebildet, erst als Frau sowohl Männer als auch Frauen gängeln zu können. Er hatte
sich außerdem eingebildet, daß er Frauen weniger, oder gar nicht mehr, beneiden [412] würde, sobald er selbst eine Frau war; er hatte sogar geglaubt, sein Bedürfnis,
Frauen zu verletzen und zu demütigen, würde sich irgendwie in Luft auflösen. Deshalb
war er auch nicht darauf gefaßt, daß er sie weiterhin so sehr haßte und ihnen weh
tun wollte. Prostituierte – und andere Frauen, denen er einen lockeren Lebenswandel
unterstellte – waren ihm ein besonderer Dorn im Auge, zum Teil deshalb, weil sie
ihre sexuelle Gunst so gering veranschlagten und ihre Geschlechtsteile, die sich
Rahul mit so viel Durchhaltevermögen und Schmerzen hatte erkaufen müssen, als etwas
so Selbstverständliches betrachteten.
Rahul hatte viel
auf sich genommen, alles mit dem Ziel, glücklich zu werden; dennoch tobte es in
seinem Innern. Wie manche (zum Glück nur wenige) echte Frauen verachtete Rahul die
Männer, die seine Gunst zu erringen versuchten, während er gleichzeitig jene, die
seine offenkundige Schönheit gleichgültig ließ, heftig begehrte. Und das war nur
die Hälfte seines Problems; die andere Hälfte (für ihn überraschend) war sein unverändertes
Bedürfnis, bestimmte Frauen zu töten. Und nachdem er sie erwürgt oder erschlagen
hatte – die zweite Art der Hinrichtung bevorzugte er –, konnte er der Versuchung
nicht widerstehen, auf ihren schlaffen Bäuchen seine Signatur in Gestalt eines Kunstwerks
zu hinterlassen. Der weiche Bauch einer toten Frau war Rahuls bevorzugte Malgrundlage,
seine Lieblingsleinwand sozusagen.
Beth war die erste
gewesen. Dieters Ermordung war für Rahul nicht erinnernswert. Aber die Spontaneität,
mit der er Beth erschlagen hatte, und die Tatsache, daß ihr Bauch auf den Wäschestift
absolut nicht reagiert hatte, waren derart extreme Stimuli gewesen, daß Rahul ihnen
weiterhin erlag.
So betrachtet befand
er sich in einer ausweglosen Situation, weil er, trotz der Geschlechtsumwandlung,
unfähig blieb, andere Frauen als umgängliche menschliche Wesen zu betrachten. Und
da Rahul Frauen nach wie vor haßte, merkte er, daß er selbst keine richtige Frau
geworden war. Noch einsamer fühlte er sich, weil er [413] auch die anderen Transsexuellen
haßte. Vor seiner Operation in London hatte er unzählige psychologische Befragungen
über sich ergehen lassen müssen. Offensichtlich waren sie recht oberflächlich gewesen,
da Rahul es geschafft hatte, den Eindruck zu erwecken, als würde er keinerlei sexuelle
Aggression verspüren. Er stellte fest, daß Freundlichkeit – in seinen Augen der
Auslöser einer widerlichen Sorte von Mitgefühl – von
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