Zirkuskind
den heißesten Monaten, also unmittelbar vor und während
der Regenzeit, geschahen keine Morde. Offenbar hielt sich der Mörder an eine angenehmere
Jahreszeit. Nur die ersten beiden Morde, die in Goa, waren in der heißen Jahreszeit
begangen worden.
Da Detective Patel
in keiner anderen indischen Stadt irgendwelche Hinweise auf Morde mit Elefantenzeichnungen
hatte entdecken können, war er zu der Erkenntnis gelangt, daß der Mörder im Ausland
lebte. Es war nicht schwer, in Erfahrung zu bringen, daß in London relativ wenige
gleichartige Morde verübt worden waren. Obwohl sie sich nicht auf die indische Bevölkerung
beschränkten, waren die Opfer immer Prostituierte oder Studentinnen – letztere hatten
normalerweise eine künstlerische Ader und führten angeblich ein bohemehaftes, unkonventionelles
Leben. Je mehr sich der Kommissar mit dem Mörder beschäftigte und je mehr er Nancy
liebte, um so deutlicher wurde ihm bewußt, welches Glück Nancy hatte, noch am Leben
zu sein.
Doch im Lauf der
Zeit machte Nancy immer weniger den Eindruck einer Frau, die sich für glücklich
hielt. Mit dem Geld im Dildo – einer so gewaltigen Summe, daß sich Nancy und auch
der junge Inspektor Patel anfangs ganz befreit gefühlt hatten – setzte bei beiden
das Gefühl ein, sich kompromittiert zu haben. Als Nancy ihren Eltern den Betrag
schickte, den sie aus dem Haushaltswarenladen gestohlen hatte, riß das nur ein winziges
Loch in die Summe. Sie hielt es für die beste Möglichkeit, die Vergangenheit auszulöschen,
doch ihr soeben begonnener Kreuzzug für die Gerechtigkeit kam ihrer lauteren Absicht
in die Quere. Das Geld war als Rückzahlung an das Geschäft gedacht, aber als Nancy
es ihren Eltern schickte, konnte sie es sich nicht verkneifen, die Männer (aus der
Abteilung Futter und Saatgut) namentlich zu erwähnen, die damals dafür gesorgt hatten,
daß sie sich wie ein Stück Dreck fühlte. Sollten ihre Eltern [419] das Geld zurückzahlen
wollen, nachdem sie wußten, was ihrer Tochter dort widerfahren war, wäre das ihre
Entscheidung.
Damit brachte sie
ihre Eltern moralisch in eine Zwickmühle, genau das Gegenteil dessen, was Nancy
bezweckt hatte. Sie hatte die Vergangenheit eben nicht ausgelöscht, sondern sie
in den Augen ihrer Eltern wiederaufleben lassen, so daß sie ihr fast zwanzig Jahre
lang (bis zu ihrem Tod) getreulich schilderten, welche Qualen sie in Iowa laufend
zu ertragen hatten, und sie unaufhörlich beknieten, doch »nach Hause« zu kommen,
sich aber weigerten, sie zu besuchen. Nancy erfuhr nie genau, was sie letzten Endes
mit dem Geld gemacht hatten.
Die Tatsache, daß
sich der bisher unbestechliche junge Inspektor Patel auf seine erste und letzte
Bestechung einließ, riß ein ähnlich kleines Loch in Dieters gewaltige Geldsumme.
Dabei ging es schlicht um den Betrag, der für eine Beförderung auf einen einträglicheren
Posten üblich und erforderlich war – wobei man nicht vergessen darf, daß Vijay Patel
kein Marathe war. Damit ein Gujarati den Sprung vom Inspektor bei der Polizeiwache
Colaba zum Kommissar im Kriminalkommissariat am Crawford Market schaffte, mußte
er, wie man das dort nannte, »das Getriebe schmieren«. Doch im Laufe der Jahre –
und auch, weil es ihm nicht gelang, Rahul aufzuspüren – hatte diese Bestechung sein
empfindsames Selbstwertgefühl angenagt. Es war eine vernünftige Ausgabe gewesen,
gewiß keine üppige Geldsumme, wie die Inspector-Dhar-Filme unterstellten: Innerhalb
der Bombayer Polizei gab es kein nennenswertes Weiterkommen ohne ein kleines bißchen
Bestechung.
Und obwohl sich
Nancy und der Kriminalbeamte liebten, waren sie unglücklich. Das lag nicht nur daran,
daß es sich als schwierig erwiesen hatte, die unerbittliche Forderung zu erfüllen,
stets der Gerechtigkeit zu dienen, und auch nicht nur daran, daß Rahul ungestraft
davongekommen war. Sondern sowohl Mr. als auch Mrs. Patel nahmen an, daß die Strafe
Gottes sie ereilt [420] hatte. Nancy war unfruchtbar, und es dauerte fast ein Jahrzehnt,
bis sie den Grund erfuhren – und dann noch ein Jahrzehnt, in dem sie erst ein Kind
zu adoptieren versuchten und sich dann letzten Endes dagegen entschieden.
Im ersten Jahrzehnt
ihrer Bemühungen, ein Kind zu zeugen, glaubten Nancy und der junge Patel – sie nannte
ihn Vijay –, sie würden dafür bestraft, daß sie das Geld angetastet hatten. Nancy
hatte die kurze Zeit körperlichen Unbehagens nach ihrer Rückkehr nach Bombay völlig
vergessen. Ein leichtes Brennen
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