Zirkuskind
Sie gingen sehr behutsam miteinander
um. Nancy empfand es als ungerecht, daß der Lunch im Duckworth Club sie so völlig
aus der Fassung bringen konnte.
Sie probierte ein
Kleid an, von dem sie wußte, daß sie es niemals in den Club anziehen würde. Mit
Unterwäsche hielt sie sich gar nicht erst auf, weil sie das Kleid ja doch wieder
ausziehen würde. Sie ging in die Küche und machte Tee. Dann holte sie ihre Sonnenbrille
und legte sich mit dem Gesicht nach oben in den länglichen Sonnenflecken auf der
Anrichte. Sie hatte vergessen, sich das Gesicht einzucremen – Sonnenschutzcreme
war in Bombay schwer zu bekommen –, nahm sich aber vor, nur eine Stunde liegenzubleiben
und nach einer halben Stunde die Sonnenbrille abzunehmen. Sie wollte keine »Waschbäraugen«
bekommen, aber Dr. Daruwalla und Inspector Dhar sollten sehen, daß sie gesund war
und auf ihr Äußeres achtete.
Nancy wünschte,
sie hätten eine Wohnung mit Ausblick gehabt; sie hätte so gern einmal einen Sonnenaufgang
oder Sonnenuntergang gesehen. (Wofür sparten sie eigentlich das Dildo-Geld auf?)
Da Nancy aus Iowa kam, hätte ihr eine Aussicht auf das Arabische Meer, nach Westen
also, besonders gut gefallen. Statt dessen sah sie, wenn sie aus dem offenen Fenster
blickte, andere Frauen hinter den Fenstern anderer Wohnungen, die jedoch ständig
in Bewegung waren, zu beschäftigt, um sie zu bemerken. Nancy hoffte, eines Tages
die Frau ausfindig zu machen, die die Polizei gerufen und Nancy als »obszön« bezeichnet
hatte. Aber natürlich wußte sie nicht, wie sie die anonyme Anruferin überhaupt hätte
erkennen sollen.
Dieser Gedanke brachte
sie zu der Frage, ob sie Rahul wiedererkennen würde. Ungleich beunruhigender war
freilich die Vorstellung, daß Rahul sie erkennen könnte. Was würde passieren, wenn
sie gerade allein ein Buch kaufte und Rahul sie entdeckte und merkte, wer sie war?
[621] Sie lag auf der
Anrichte und schaute in die Sonne, bis sie hinter einem benachbarten Gebäude verschwand.
Jetzt bekomme ich doch Waschbäraugen, dachte sie, aber eigentlich verfolgte sie
ein anderer Gedanke: daß sie eines Tages unmittelbar neben Rahul stehen und nicht
wissen würde, daß er es war; Rahul hingegen würde wissen, daß sie Nancy war. Und
davor hatte sie Angst.
Nancy setzte die
Sonnenbrille ab, blieb aber bewegungslos auf dem Rücken liegen. Sie dachte an Inspector
Dhars geschürzte Oberlippe. Er hatte einen nahezu perfekten Mund, und jetzt fiel
ihr wieder ein, daß sie diese leicht gekräuselte Oberlippe zunächst als freundlich
empfunden hatte, ja sogar als einladend. Erst dann war ihr klar geworden, daß er
sie spöttisch anlächelte.
Nancy wußte, daß
sie auf Männer attraktiv wirkte. In zwanzig Jahren hatte sie sieben Kilo zugenommen,
aber nur eine Frau hätte sich darüber Sorgen gemacht, denn diese sieben Kilo hatten
sich ganz gleichmäßig verteilt; sie hatten sich weder alle im Gesicht festgesetzt
noch an den Oberschenkeln. Nancys Gesicht war immer rund gewesen, aber es war nach
wie vor glatt; ihre Brüste waren immer schön gewesen – jetzt waren sie in den Augen
der meisten Männer noch schöner. Mit Sicherheit waren sie größer. Ihre Hüften waren
ein bißchen voller geworden, die Taille ein bißchen dicker, aber immer noch deutlich
betont. Ihre übertrieben kurvenreiche Figur ließ sie insgesamt üppig erscheinen.
Sie war etwa so alt wie Dhar, knapp vierzig, wirkte aber jünger, was nicht nur an
ihren blonden Haaren und der hellen Haut lag, sondern auch an ihrer Nervosität.
Sie war ungeschickt wie ein junges Mädchen, das sich einbildet, daß alle sie anstarren.
Der Grund dafür war, daß sie Angst hatte, von Rahul beobachtet zu werden – auf Schritt
und Tritt.
Unglücklicherweise
fühlte sich Nancy in einer Menschenmenge oder in einer neuen Umgebung, in der die
Leute sie ansahen – und diese Tendenz bestand bei Männern wie Frauen –, so [622] befangen,
daß sie kaum ein Wort herausbrachte. Sie glaubte, die Leute würden sie anstarren,
weil sie lächerlich aussah; an ihren guten Tagen glaubte sie lediglich, daß es an
ihrer Körperfülle lag. Wann immer sie mit fremden Leuten beisammen war, mußte sie
an Dhars höhnisches Lächeln denken. Sie war damals ein hübsches Mädchen gewesen,
aber das hatte er nicht bemerkt. Sie hatte ihm einen riesigen Dildo gezeigt, ihn
(recht anzüglich) gebeten, das Ding aufzuschrauben, und hinzugefügt, daß sie ihm
ersparen wollte… daß sie ihn nicht sehen lassen wollte, was sich
Weitere Kostenlose Bücher