Zirkuskind
Anbetracht der
Tatsache, daß John D. mit Inspector Dhar Schluß machen und Bombay endgültig verlassen
wollte, wußte Farrokh, wie sein Ratschlag lauten würde. »Zeit zu verschwinden«,
würde Inspector Dhar sagen.
Wanzen ahoi!
In alten
Zeiten, bevor die Arztzimmer und Untersuchungsräume in der Klinik für Verkrüppelte
Kinder Klimaanlagen hatten, hing über dem Schreibtisch, an dem Dr. Daruwalla jetzt
saß und nachdachte, ein Deckenventilator, und das Fenster zum Hof, in dem die Krankengymnastik
stattfand, stand immer offen. Heutzutage hinderten das geschlossene Fenster und
die gleichmäßig summende Klimaanlage Farrokh daran, die Geräusche der Kinder unten
im Hof mitzubekommen. Wenn der Doktor durch den Hof ging oder gerufen wurde, um
sich die Fortschritte eines operierten Patienten in der physikalischen Therapie
anzusehen, regten ihn die weinenden Kinder nicht übermäßig auf. Für ihn gehörte
zur Genesung ein gewisses Maß an Schmerzen. Nach einem chirurgischen Eingriff –
da vor allem – mußte ein Gelenk eben bewegt werden. Aber außer Schmerzensschreien
dieser Art gab es noch das Gewimmer von Kindern, die Angst vor bevorstehenden Schmerzen
hatten, und dieses herzzerreißende Wimmern machte dem Doktor schwer zu schaffen.
Farrokh drehte sich
um und blickte durch das geschlossene Fenster in den Hof hinunter. An den Gesichtern
der Kinder konnte er trotz der fehlenden Geräusche ablesen, welche Kinder Schmerzen
hatten und welche aus jämmerlicher Angst vor künftigen Schmerzen weinten. Geräuschlos
leiteten die Physiotherapeuten die Kinder an, sich zu bewegen. Dem Kind mit dem [667] frisch eingesetzten künstlichen Hüftgelenk wurde gesagt, es solle aufstehen,
das mit dem neuen Knie sollte ein paar Schritte gehen, und der neue Ellbogen sollte
sich zum erstenmal drehen. Das Erscheinungsbild des Therapiegeländes im Hof war
zeitlos für Dr. Daruwalla, der darüber nachsann, daß seine Fähigkeit, die Geräusche
wahrzunehmen, von denen er abgeschottet war, der einzige zuverlässige Maßstab für
seine Menschlichkeit war. Selbst bei eingeschalteter Klimaanlage und geschlossenem
Fenster konnte er das Gewimmer hören. Zeit zu verschwinden, dachte er.
Er öffnete das Fenster
und beugte sich hinaus. Die Mittagshitze und der aufsteigende Staub waren erdrückend,
obwohl das Wetter (für Bombayer Verhältnisse) relativ kühl und trocken geblieben
war. Die Schreie der Kinder vermischten sich mit den Autohupen und dem Kettensägenlärm
der Mopeds. Das alles atmete Dr. Daruwalla ein, während er mit zusammengekniffenen
Augen in das stauberfüllte, grelle Licht blickte. Er warf einen fast schon distanzierten,
wohlwollenden Blick auf das Therapiegelände. Einen Abschiedsblick. Dann rief er
Ranjit herein, um zu hören, was es Neues gab.
Dr. Daruwalla war
keineswegs überrascht, daß Deepa bereits mit dem Great Blue Nile verhandelt hatte;
er hatte nicht damitgerechnet, daß die Frau des Zwergs ein besseres Angebot bekommen
würde. Der Zirkus würde versuchen, die begabte »Schwester« auszubilden. Er würde
sich verpflichten, dieseMühe drei Monate lang auf sich zu nehmen, ihr während dieser
Zeit Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu gebenund sich um ihren verkrüppelten
»Bruder« zu kümmern.Wenn Madhu ausgebildet werden konnte, würde der GreatBlue Nile
beide Kinder behalten, andernfalls würde er sie wieder wegschicken.
In Farrokhs Drehbuch
bezahlte der Great Royal Pinky während ihrer Ausbildung drei Rupien pro Tag; der
fiktive Ganesh [668] arbeitete ohne Bezahlung, nur für Essen und Unterkunft. Im Great
Blue Nile hingegen wurde die Tatsache, daß Madhu überhaupt ausgebildet wurde, als
ein Privileg angesehen. Geld würde sie dafür keines bekommen. Und für den echten
Jungen mit dem zerquetschten Fuß war es ohnehin schon ein Privileg, durchgefüttert
und untergebracht zu werden, obwohl auch er arbeiten würde. Auf Kosten ihrer »Wohltäter«
– im Normalfall übernahmen die Eltern diese Verpflichtung – würden Madhu und Ganesh
an den Ort gebracht werden, wo der Great Blue Nile derzeit gastierte. Im Augenblick
hatte er seine Zelte in Junagadh aufgeschlagen, einer Kleinstadt mit etwa hunderttausend
Einwohnern im Bundesstaat Gujarat.
Junagadh! Sie würden
einen Tag für die Hinfahrt brauchen und einen weiteren Tag für die Rückreise. Sie
mußten nach Rajkot fliegen und anschließend noch eine zwei- oder dreistündige Autofahrt
in die kleinere Stadt überstehen. Ein Fahrer vom Zirkus würde
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