Zirkuskind
sie am Flugplatz abholen,
bestimmt irgend so ein rücksichtsloser Requisiteur. Aber mit dem Zug wäre es noch
schlimmer. Farrokh wußte, daß Julia es gar nicht mochte, wenner über Nacht weg war,
und in Junagadh würde es wahrscheinlich keine andere Übernachtungsmöglichkeit geben
als imStaatlichen Gästehaus. Läuse waren dort sehr wahrscheinlich, Wanzen gab es
garantiert. Außerdem bedeutete dasachtundvierzig Stunden Konversation mit Martin
Mills und keine Zeit, um an seinem Drehbuch weiterzuschreiben. Natürlich war dem
Drehbuchautor inzwischen bewußt geworden,daß der echte Dr. Daruwalla Teil einer
sich parallel entwickelnden Geschichte war.
[669] Tobende Hormone
Als Dr.
Daruwalla in der St. Ignatius-Schule anrief, um den neuen Missionar über die bevorstehende
Reise zu informieren, fragte er sich, ob er beim Schreiben etwa gar prophetische
Fähigkeiten entfaltete. Er hatte seinen fiktiven Mr. Martin bereits als »den beliebtesten
Lehrer an der Schule« geschildert, und jetzt erzählte ihm Pater Cecil, Martin Mills
habe sich bei seinem Rundgang durch die Klassen gleich am ersten Morgen »sehr beliebt«
gemacht. Der junge Martin, wie Pater Cecil ihn nach wie vor nannte, hatte dem Pater
Rektor sogar die Erlaubnis abgerungen, mit den Jungen der höheren Klassen Graham
Greene lesen zu dürfen. Der umstrittene katholische Schriftsteller Graham Greene
gehörte zu Martin Mills’ Lieblingsautoren. »Immerhin hat er als Romanautor katholische
Themen populär gemacht«, meinte Pater Cecil.
Farrokh, der sich
als alten Graham-Greene-Fan betrachtete, fragte mißtrauisch: »Katholische Themen?«
»Selbstmord als
Todsünde, zum Beispiel«, antwortete Pater Cecil. (Offenbar hatte Pater Julian Martin
Mills erlaubt, in den höheren Klassen Das Herz aller Dinge durchzunehmen.)Dr. Daruwallas Stimmung
hob sich vorübergehend. Vielleicht konnte er auf der langen Fahrt nach Junagadh
und zurück die Unterhaltung mit dem Missionar ja auf Graham Greene lenken. Und wer
mochten die anderen Helden des religiösen Eiferers sein? fragte sich der Doktor.
Farrokh hatte schon
eine Zeitlang kein gutes Gespräch mehr über Graham Greene geführt. Julia und ihre
literarisch ambitionierten Freunde diskutierten lieber über zeitgenössische Autoren.
Sie fanden es altmodisch, daß Farrokh seine modernen Klassiker lieber ein zweites
Mal las. Martin Mills’ Bildung konnte einen schon einschüchtern, aber vielleicht
würden Martin und Farrokh ja dank der Romane von Graham Greene zueinanderfinden.
[670] Dr. Daruwalla
konnte nicht wissen, daß sich der Scholastiker mehr für das Thema Selbstmord interessierte
als für Graham Greenes schriftstellerische Qualitäten. Für einen Katholiken bedeutete
Selbstmord eine Mißachtung von Gottes Macht über das menschliche Leben. Der Muslim
Arif Koma war bestimmt nicht im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten gewesen,
argumentierte Martin. Daß er sich in Vera verliebt hatte, deutete eindeutig auf
einen Verlust besagter Fähigkeiten hin, oder überhaupt auf ganz andere Fähigkeiten.
Daß einem Selbstmörder
ein kirchliches Begräbnis verweigert wurde, war für Martin Mills eine entsetzliche
Vorstellung. Allerdings akzeptierte die Kirche den Selbstmord bei Menschen, die
den Verstand verloren hatten oder denen nicht bewußt war, daß sie sich umbrachten.
Der Missionar hoffte, daß Gott den Selbstmord des Türken in die Nicht-bei-Verstand-Kategorie
einordnen würde. Schließlich hatte Martins Mutter demJungen das Hirn aus dem Leib
gevögelt. Wie sollte Arif danach eine vernünftige Entscheidung treffen?
Aber wenn Dr. Daruwalla
schon auf Martin Mills’ katholische Interpretation des von ihm so bewunderten Autors
nicht vorbereitet war, so tappte er erst recht im dunkeln, was die unliebsame Störung
betraf, die die St. Ignatius-Schule in den späten Morgenstunden erschüttert hatte
und über die sich Pater Cecil in unzusammenhängenden Andeutungen erging. Die Missionsstation
war von einem ungestümen Eindringling aufgescheucht worden. Die zu Hilfe gerufene
Polizei hatte das gewaltsame Individuum überwältigen müssen, dessen Gewalttätigkeit
Pater Cecil »tobenden Hormonen« zuschrieb.
Farrokh gefiel der
Ausdruck so gut, daß er ihn sich notierte.
»Es war ausgerechnet
eine Transvestiten-Prostituierte«, flüsterte Pater Cecil ins Telefon.
»Warum flüstern
Sie?« fragte Dr. Daruwalla.
»Der Pater Rektor
ist von dem Zwischenfall noch ganz [671] aufgewühlt«, vertraute Pater Cecil dem
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