Zirkuskind
›Eunuchoidismus‹ spricht, heißt das ja nicht, daß man jemanden als ›eine Art
Eunuchen‹ bezeichnet«, erläuterte Dr. Tata.
»Bei einem Zwölf-
oder Dreizehnjährigen läßt sich eine solche Diagnose doch praktisch gar nicht stellen.
Im übrigen würde sie einen Jungen in diesem zarten Alter doch ungeheuer verunsichern.
Würden Sie mir da nicht recht geben?« fragte Dr. Daruwalla.
»Da haben Sie völlig
recht«, antwortete Tata Zwo. »Bei einem Achtzehnjährigen ließe sich eher über eine
solche Diagnose diskutieren.«
»Lieber Himmel«,
sagte Dr. Daruwalla.
»Nun, wir dürfen
nicht vergessen, daß die ganze Familie Rai ziemlich eigenartig war«, gab Dr. Tata
zu bedenken.
»Genau die Sorte
Familie, die aus einer Fehldiagnose Kapital schlagen würde«, bemerkte Dr. Daruwalla.
»Ich würde es nicht
als ›Fehldiagnose‹ bezeichnen, höchstens [661] als ein bißchen arg voreilig«, verteidigte
Tata Zwo seinen Vater. Verständlich, daß er jetzt gern das Thema wechseln wollte.
»Ach übrigens, ich habe für Sie das Ergebnis von diesem Mädchen. Mr. Subash hat
mir gesagt, daß Sie die Sache schnell erledigt haben wollen.« Mr. Subash hatte Dr.
Daruwalla gesagt, daß der HIV -Test
mindestens zwei Tage dauern würde – länger, wenn die erste Phase positiv war. »Jedenfalls
hat sie einen normalen Befund. Der Test war negativ«, sagte Dr. Tata.
»Das ging aber schnell«,
meinte Dr. Daruwalla. »Sie sprechen doch von dem Mädchen namens Madhu? Das Mädchen
heißt Madhu.«
»Ja, ja«, sagte
Dr. Tata. Jetzt war er derjenige, der ungeduldig wurde. »Ich habe das Testergebnis
vor mir liegen! Der Name ist Madhu. Der Test war negativ. Mr. Subash hat mir die
Akte soeben auf den Schreibtisch gelegt.«
Wie alt ist eigentlich
dieser Mr. Subash? wollte Dr. Daruwalla fragen, aber für ein Telefonat hatte er
sich genug geärgert. Wenigstens konnte er das Mädchen jetzt aus der Stadt bringen.
Er bedankte sich bei Tata Zwo und legte auf. Er wollte zu seinem Drehbuch zurückkehren,
rief aber erst Ranjit herein und bat ihn, Mr. Garg davon in Kenntnis zu setzen,
daß Madhu nicht HIV- positiv
war. Er selbst wollte Garg diese Genugtuung nicht verschaffen.
»Das ging aber schnell«,
meinte Ranjit, aber Dr. Daruwallas Gedanken waren schon wieder bei seinem Drehbuch.
Im Augenblick schenkte er seinen erfundenen Kindern mehr Aufmerksamkeit als denen,
die sich in seiner Obhut befanden.
Immerhin dachte
der Doktor daran, Ranjit zu bitten, sich mit der Frau des Zwergs in Verbindung zu
setzen. Deepa mußte benachrichtigt werden, daß Madhu und Ganesh in den Zirkus kommen
würden – und deshalb mußte Dr. Daruwalla wissen, wo (in welchem Winkel von Gujarat)
er derzeit gastierte. Außerdem hätte Farrokh den neuen Missionar anrufen sollen, [662] um ihn vorzuwarnen, daß sie die Kinder am Wochenende in den Zirkus bringen würden,
aber das Drehbuch zog ihn unwiderstehlich an. Der fiktive Mr. Martin fesselte ihn
ungleich mehr als Martin Mills.
Je lebhafter sich der Drehbuchautor die Nummern des Great Royal Circus
vergegenwärtigte und sie schilderte, um so mehr fürchtete er sich vor der Enttäuschung,
die er zweifellos erleben würde, wenn er zusammen mit Martin Mills die echten Kinder
im Great Blue Nile ablieferte.
[663] 20
Die Bestechung
Zeit zu verschwinden
Die beträchtlichen
Unterschiede zwischen Martin Mills und dem fiktiven Mr. Martin verursachten Farrokh
so gut wie keine Gewissensbisse. Er hatte den leisen Verdacht, daß er aus einem
schwergewichtigen Verrückten einen leichtgewichtigen Narren gemacht hatte. Als der
Leinwand-Missionar die Kinder zum erstenmal im Zirkus besucht, rutscht er aus und
fällt in Elefantenscheiße. Auf die Idee, daß der echte Missionar wahrscheinlich
in eine viel größere Schweinerei getappt war als in einen Haufen, war Dr. Daruwalla
noch gar nicht gekommen.
Als Titel jedenfalls
wäre ›Elefantenscheiße‹ völlig ungeeignet. Farrokh hatte diesen Ausdruck an den
Rand der Seite geschrieben, auf der er zum erstenmal auftauchte, strich ihn jetzt
aber durch. Ein Film mit diesem Titel würde in Indien von vornherein verboten werden.
Außerdem, wer würde sich schon einen Film mit diesem Titel anschauen wollen? Die
Leute würden ihre Kinder nicht mitnehmen, und nach Möglichkeit sollte es ja ein
Film für Kinder werden – wenn überhaupt für jemanden, dachte Farrokh düster. Wieder
einmal überfielen ihn seine alten Feinde, die Zweifel, und er begrüßte sie wie
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