Zirkuskind
Drehbuchautor. Die Ironie des Unterfangens übersah er völlig: Hier saß er und
tüftelte den Tod seiner fiktiven Pinky aus, während er gleichzeitig auf die realen
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wartete. Aber Farrokh war sich selbst schon wieder vorausgeeilt. Erst mußte er sich
überlegen, was Ganesh anstellen konnte, um für den Zirkus unersetzlich zu werden.
Der Junge ist ein bescheidener Krüppel, ein Bettler, mehr nicht. Er ist unbeholfen,
und er wird immer hinken. Das einzige Kunststück, das er beherrscht, ist der Trick
mit der Vogelkacke (Dr. Daruwalla machte sich rasch eine Notiz, diesen Trick ins
Drehbuch einzubauen; jetzt, da Pinky von einem Löwen getötet werden würde, waren
mehr erheiternde und auflockernde Einsprengsel erforderlich.)
In dem Augenblick
stellte Ranjit Dr. Tatas Anruf durch. Farrokhs schöpferischer Schwung, sein ganzer
Gedankenfluß, wurde unterbrochen. Und noch mehr ärgerte ihn, was er jetzt von Dr.
Tata erfuhr.
»Oje, der gute alte
Dad«, sagte Tata Zwo. »Ich fürchte, da hat er ziemlichen Mist gemacht!«
Es hätte Dr. Daruwalla
keineswegs überrascht, wenn der alte Dr. Tata bei sehr vielen Diagnosen Mist gebaut
hätte; schließlich hatte der alte Esel (bis zur Entbindung) auch nicht gemerkt,
daß Vera Zwillinge erwartete. Was ist es denn diesmal? fühlte sich Farrokh verleitet
zu fragen. Aber er formulierte seine Frage etwas höflicher: »Dann hat er sich Rahul
also angesehen?«
»Und ob er das hat!«
sagte Dr. Tata. »Es muß eine aufregende Untersuchung gewesen sein… Promila hat behauptet,
der Junge habe sich bei einer angeblich einmaligen Begegnung mit einer [659] Prostituierten
als impotent erwiesen! Aber ich habe den Verdacht, daß die Diagnose ein bißchen
voreilig war.«
»Wie hat sie denn
gelautet?« fragte Dr. Daruwalla.
»Eunuchoidismus!«
sagte Tata Zwo. »Heutzutage würden wir das als ›Hypogonadismus‹ bezeichnen. Aber
egal, wie man es nennt, es ist lediglich ein Syndrom, für das es mehrere mögliche
Ursachen gibt. Ähnlich wie Kopfweh oder Benommenheit Symptome für…«
»Ja, ja«, sagte
Dr. Daruwalla ungeduldig. Ihm war klar, daß Tata Zwo ein bißchen recherchiert oder
vielleicht auch mit einem kompetenteren Gynäkologen gesprochen hatte. Gynäkologen
wußten in der Regel besser über solche Dinge Bescheid als andere Ärzte, vermutlich
weil sie sich gut mit Hormonen auskannten. »Unter welchen Voraussetzungen würden
Sie denn auf Hypogonadismus tippen?« fragte Dr. Daruwalla Tata Zwo.
»Wenn ich einen
Jungen oder einen Mann mit auffallend langen Extremitäten vor mir hätte, bei dem
die Armspannweite – also wenn er die Arme ausstreckt – die Körpergröße um fünf Zentimeter
übersteigt. Oder wenn der Abstand zwischen Schambein und Boden größer ist als der
zwischen Schambein und Scheitel«, antwortete Dr. Tata. Das liest er garantiert aus
einem Buch ab, dachte Dr. Daruwalla. »Und wenn dieser Junge oder Mann außerdem fehlende
sekundäre Geschlechtsmerkmale aufweist…«, fuhr Tata Zwo fort, »…Sie wissen schon
– Stimmlage, muskuläre Entwicklung, Phallusentwicklung, rautenförmige Ausweitung
der Schambehaarung bis hinauf zum Bauch…«
»Aber wie könnten
Sie feststellen, daß die sekundären Geschlechtsmerkmale unvollständig ausgeprägt
sind, wenn der Junge noch nicht mal fünfzehn ist?« fragte Dr. Daruwalla.
»Na ja, genau das
ist das Problem. Im Grunde geht das gar nicht«, gab Tata Zwo zu.
»Rahul war 1949
erst zwölf oder dreizehn!« rief Farrokh. Es [660] war lächerlich, daß Promila den Jungen
als impotent bezeichnet hatte, weil er nicht in der Lage gewesen war, bei einer
Prostituierten eine Erektion zu bekommen oder zu halten. Noch lächerlicher war,
daß der alte Dr. Tata ihr geglaubt hatte!
»Na ja, das meine
ich damit, daß die Diagnose ein bißchen voreilig war«, räumte Tata Zwo ein. »Der
Reifungsprozeß beginnt mit elf oder zwölf Jahren – Vorboten dafür sind das Hartwerden
der Testikel – und ist normalerweise innerhalb von fünf Jahren abgeschlossen, obwohl
Einzelheiten, etwa das Wachstum der Brusthaare, noch eine Dekade dauern können.«
Als das Wort ›Dekade‹ fiel, wußte Dr. Daruwalla mit Bestimmtheit, daß Tata Zwo aus
einem Buch vorlas.
»Mit einem Wort,
Sie sind der Ansicht, daß sich Rahuls Pubertät vielleicht einfach nur verzögert
hat. Es war in jeder Hinsicht zu früh, um ihn als eine Art Eunuchen zu bezeichnen!«
sagte Farrokh erregt.
»Na ja, wenn man
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