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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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überhaupt
irgendeine Aufschrift oder ein [789]  Nummernschild bemerkt hatte, konnte er sich im
nachhinein nicht mehr daran erinnern.
    In Little
India schienen die Läden am Freitag weitgehend geschlossen zu sein. Offenbar hatte
niemand gesehen, wie der Doktor unsanft aus dem Taxi gezerrt worden war; niemand
kümmerte sich um ihn, obwohl er benommen dastand und blutete – und eindeutig die
Orientierung verloren hatte. Ein kleiner, schmerbäuchiger Mann in einem dunklen
Anzug – das weiße Hemd ruiniert von dem Blut, das aus seiner aufgeplatzten Augenbraue
sickerte –, der in einer Hand krampfhaft einen Arztkoffer hielt. Er setzte sich
in Bewegung. Auf dem Bürgersteig hingen an einem Kleiderständer Kaftane, die im
Frühlingslüftchen schaukelten. Später hatte Farrokh große Schwierigkeiten, sich
an einzelne Namen zu erinnern. Stickwaren Pindi? Nirma Fashions? Dann war da noch
ein Lebensmittelladen mit frischem Obst und Gemüse – vielleicht Singh Farm? An der
Vereinigungskirche war ein Schild angebracht, das besagte, daß die Kirche am Sonntagabend
auch als Shri-Ram-Hindu-Tempel diente. An der Ecke Craven Road und Gerrard Street
pries ein Restaurant »Indische Spezialitäten« an. Auch die vertraute Werbung für
Kingfisher Lager war zu sehen – ERFÜLLT MIT INNERER KRAFT. Auf einem Plakat, das eine NACHT DER ASIATISCHEN
SUPERSTARS verhieß,
waren die üblichen Gesichter abgebildet: Dimple Kapadia, Sunny Deol, Jaya Prada
– mit Musik von Bappi Lahiri.
    Dr. Daruwalla
kam sonst nie nach Little India. Die Schaufensterpuppen in ihren Saris schienen
ihn deshalb zu tadeln. In Toronto hatte Farrokh wenig Kontakt mit Indern. Auch indische
Freunde hatte er dort nicht. Ab und zu brachten Parsen ihre kranken Kinder zu ihm
– vermutlich aufgrund seines Namens, den sie im Telefonbuch gefunden hatten. Farrokh
fiel eine blonde Schaufensterpuppe in einem Sari auf, die genau wie er die Orientierung
verloren zu haben schien.
    [790]  Beim
Juwelier Raja starrten ihn aus einem Fenster zwei Augen an, die wahrscheinlich auch
bemerkten, daß er blutete. In der Nähe der Kreuzung Ashdale Avenue und Gerrard Street
gab es ein südindisches »Rein vegetarisches Restaurant«. Im Chaat Hut wurden »Alle
Arten von kulfi,
faluda und paan « angepriesen. Das Schild am Bombay
Bhel versprach ECHTES, AUTHENTISCHES GOL GUPPA… ALOO TIKKI… ECT. Dort gab es auch Thunderbolt Bier, SUPER
STRONG LAGER … ANREGEND
– AUFREGEND. In einem Schaufenster Ecke Hiawatha und Gerrard waren noch mehr Saris ausgestellt.
Und aus der Tür des Lebensmittelladens Shree quoll ein Berg Ingwerknollen bis auf
den Bürgersteig. Der Doktor warf einen glasigen Blick auf das India Theatre… und
auf die Seidengrube.
    Bei J.
S. Addison, Installationen, an der Ecke Woodfield und Gerrard sah Farrokh eine phantastische
Kupferbadewanne mit reich verzierten Armaturen; die Drehknöpfe waren Tigerköpfe,
brüllende Tiger. Sie glich der Badewanne, in der er als Junge in der alten Ridge
Road in Malabar Hill gebadet hatte. Dr. Daruwalla kamen die Tränen. Während er die
ausgestellten Kupferwaschbecken und Abflußrohre und anderes viktorianisches Badezimmerzubehör
anstarrte, bemerkte er plötzlich das besorgte Gesicht eines Mannes, der ihn von
drinnen durch die Scheibe ansah. Der Mann kam auf den Gehsteig heraus.
    »Sie sind
verletzt? Kann ich Ihnen helfen?« erkundigte sich der Mann; er war kein Inder.
    »Ich bin
Arzt«, sagte Dr. Daruwalla. »Bitte rufen Sie mir nur ein Taxi, ich weiß, wo ich
hin muß.« Als das Taxi kam, ließ er sich in die Kinderklinik zurückfahren.
    »Sin Sie
sicher, daß Sie in die Kinderklinik wolln, Mann?« fragte der Fahrer. Er war Westinder,
ein Schwarzer – pechschwarz. »Wien krankes Kind sehn Sie nicht grad aus.«
    »Ich bin Arzt«, sagte Farrokh. »Ich arbeite dort.«
    [791]  »Und
wer hat Sie so zugerichtet, Mann?« fragte der Fahrer.
    »Zwei
Kerle, die Leute wie mich – oder wie Sie – nicht mögen«, erklärte der Doktor.
    »Die kenn
ich, die gibs überall, Mann«, sagte der Fahrer.
    Dr. Daruwalla
stellte erleichtert fest, daß sein Sekretär und die Krankenschwester nach Hause
gegangen waren. Er hatte in seiner Klinikpraxis immer Kleider zum Wechseln, und
nachdem er zusammengeflickt war, würde er das Hemd wegwerfen. Seinen Arzthelfer
würde er beauftragen, den Anzug in die Reinigung zu bringen.
    Vor dem
Spiegel untersuchte er die Platzwunde an seiner Augenbraue und rasierte die Haare
ringsum ab. Das war nicht schwierig,

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