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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schließlich war er es gewohnt, sich vor einem
Spiegel zu rasieren. Dann dachte er über die Procain-Injektion und die Stiche nach
– wie er das mit Hilfe des Spiegels anständig hinkriegen sollte, war ihm ein Rätsel,
vor allem das Nähen. Farrokh rief in Dr. Macfarlanes Vorzimmer an und bat den Sekretär,
Mac auszurichten, er solle bei ihm vorbeischauen, bevor er sich auf den Heimweg
machte.
    Anfangs
versuchte Farrokh, Macfarlane weiszumachen, er habe sich den Kopf in einem Taxi
angestoßen, weil der Fahrer so rücksichtslos fuhr, daß es ihn beim Bremsen nach
vorn auf die Plexiglastrennscheibe geschleudert hatte. Obwohl das die Wahrheit war,
oder die Lüge zumindest nur in einer Auslassung bestand, versagte seine Stimme.
Die Angst, die Kränkung, die Wut – all das war noch immer in seinen Augen zu lesen.
    »Wer hat
dir das angetan, Farrokh?« fragte Mac.
    Dr. Daruwalla
erzählte Dr. Macfarlane die ganze Geschichte – angefangen mit den drei halbwüchsigen
Jungen in der U-Bahn bis hin zu den Pöbeleien aus vorbeifahrenden Autos. Bis Mac
ihn zusammengeflickt hatte – er brauchte fünf Stiche, um die Wunde zu schließen –, hatte Farrokh den Ausdruck ›farbiger Einwanderer‹ öfter ausgesprochen als je
zuvor, selbst vor Julia. Er würde [792]  Julia auch nie von Little India erzählen; daß
Mac Bescheid wußte, war Trost genug.
    Dr. Macfarlane
hatte selbst so seine Geschichten erlebt. Er war nie zusammengeschlagen worden,
aber man hatte ihn bedroht und eingeschüchtert. Spätnachts erhielt er anonyme Anrufe,
obwohl er seine Nummer schon dreimal hatte ändern lassen. Er bekam auch Anrufe in
seiner Klinikpraxis. Im Lauf der Zeit hatten zwei Sekretäre und eine Krankenschwester
gekündigt. Manchmal wurden Briefe oder Zettel unter der Praxistür durchgeschoben.
Vielleicht stammten sie von den Eltern ehemaliger Patienten oder von anderen Kollegen
oder irgendwelchen Leuten, die in der Kinderklinik arbeiteten.
    Mit Macs
Hilfe probierte Farrokh aus, wie er Julia seinen »Unfall« schildern wollte. Es hörte
sich glaubhafter an, wenn es nicht die Schuld des Taxifahrers war. Gemeinsam legten
sie sich folgende Geschichte zurecht: Eine idiotische Frau war aus einer Parklücke
ausgeschert, ohne sich umzusehen, so daß der Taxifahrer wohl oder übel auf die Bremse
treten mußte. (Wieder einmal wurde eine unschuldige Autofahrerin bezichtigt.) Sobald
Farrokh merkte, daß er sich geschnitten hatte und blutete, bat er den Fahrer, ihn
in die Klinik zurückzufahren. Zum Glück war Macfarlane noch dagewesen und hatte
ihn zusammengeflickt. Nur fünf Stiche. Sein weißes Hemd konnte er abschreiben, und
wie der Anzug aussehen würde, wenn er aus der Reinigung kam, war nicht abzusehen.
    »Warum
sagst du Julia nicht einfach, was passiert ist?« fragte Mac.
    »Sie wäre
enttäuscht von mir, weil ich nichts unternommen habe«, erklärte Farrokh.
    »Das bezweifle
ich«, meinte Macfarlane.
    » Ich bin enttäuscht, daß ich nichts unternommen
habe«, gab Dr. Daruwalla zu.
    »Das ist
nicht zu ändern«, sagte Mac.
    [793]  Auf
dem Heimweg in die Russell Hill Road erkundigte sich Farrokh nach Macs Arbeit in
der Aids-Sterbeklinik – in Toronto gab es eine sehr gute.
    »Ich bin
nur ein freiwilliger Helfer«, erklärte Macfarlane.
    »Aber
du bist doch Arzt«, sagte Dr. Daruwalla. »Ich meine, es ist sicher interessant dort.
Aber was genau kann ein Orthopäde dort machen?«
    »Nichts«, antwortete Mac. »Dort bin ich kein Arzt.«
    »Aber
natürlich bist du Arzt, du bist überall Arzt!« rief Farrokh. »Es gibt doch sicher
Patienten, die sich wundgelegen haben. Wir wissen, wie man wundgelegene Stellen
behandelt. Und was ist mit Schmerzbekämpfung?« Dr. Daruwalla dachte an Morphium,
ein wunderbares Arzneimittel, weil es über eine Dämpfung der Hirnfunktionen die
Atmung beeinflußt. In einer Aids-Sterbeklinik traten doch sicher viele Tode durch
Atemstillstand ein. Wäre Morphium da nicht besonders nützlich? Es ändert zwar nichts
an der Atemnot, aber der Patient muß nicht unnötig leiden. »Und was ist mit Muskelschwund,
wo die Patienten doch ans Bett gefesselt sind?« fügte Farrokh hinzu. »Sicher könntest
du den Familienangehörigen passive Bewegungsübungen zeigen oder an die Patienten
Tennisbälle zum Trainieren der Handmuskulatur ausgeben…«
    Dr. Macfarlane
lachte. »Die Sterbeklinik hat ihre eigenen Ärzte. Aids-Spezialisten«, sagte Macfarlane.
»Ich bin dort absolut kein Arzt, und genau das gefällt mir daran. Ich bin nur

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