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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Lowji hatte diese Geschichte auch gern gemocht und sie seinen Kindern
Farrokh und Jamshed oft erzählt. Erst jetzt fragte sich Dr. Daruwalla, ob es eine
echte Legende war oder ob der alte Lowji sie sich nur ausgedacht hatte; dem alten
Mann war es durchaus zuzutrauen, daß er selbst eine Legende erfand.
    Es gab
noch andere Legenden; es gab auch mehr als eine Geschichte über Ganeshs Geburt.
Einer südindischen Version zufolge hatte Parvati die heilige Silbe »Om« erblickt,
und ihr bloßer Blick verwandelte diese zwei Buchstaben in zwei sich paarende Elefanten,
die Lord Ganesha gebaren und dann wieder die Gestalt der heiligen Silbe annahmen.
Aber in einer düstereren [799]  Version, die von dem angeblichen erotischen Widerstreit
zwischen Parvati und ihrem Ehemann, Lord Shiva, zeugt, kommt Shivas Eifersucht auf
Parvatis Sohn deutlich zum Ausdruck. Übrigens ist – ähnlich wie beim Jesuskind –
nirgends davon die Rede, daß sich Ganeshs Geburt auf »natürlichem« Weg vollzogen
hat.
    In diesem
finsteren Mythos wird Ganesh, der nicht mit einem Elefantenkopf zur Welt gekommen
ist, durch Shivas bösen Blick geköpft. Das Kind kann nur überleben, wenn es gelingt,
dem Jungen den – nach Norden gerichteten – Kopf eines anderen Lebewesens aufzupflanzen.
Nach einer gewaltigen Schlacht findet man tatsächlich einen sterbenden Elefanten,
dessen Kopf nach Norden zeigt, und als man ihm gewaltsam den Kopf abschlägt, bricht
ein Stoßzahn ab.
    Doch da
Farrokh als Kind die Legende vom Mond als erste gehört hatte, mochte er sie lieber.
    »Entschuldigen
Sie, haben Sie meine Frage gehört?« fragte Martin den Doktor. »Ich wollte wissen,
was mit dem anderen Stoßzahn des Elefanten geschehen ist.«
    »Er hat
ihn selbst abgebrochen«, antwortete Dr. Daruwalla. »Er wurde stocksauer und hat
ihn auf den Mond geschleudert.« Der Zwerg warf dem Doktor im Rückspiegel einen bösen
Blick zu; als guter Hindu fand Vinod Dr. Daruwallas blasphemische Äußerung keineswegs
amüsant. Lord Ganesha war garantiert nie »stocksauer«, da dies eine ausschließlich
menschliche Schwäche war.
    Der Missionar
stieß einen Seufzer aus, der deutlich ausdrückte, wie sehr die verdrießliche Stimmung
des Doktors seine Langmut und Geduld strapazierte. »Jetzt sind wir schon wieder
soweit«, sagte der Jesuit. »Sie verheimlichen mir noch immer etwas.«

[800]  24
    Die Teufelin höchstpersönlich
    Vorbereitung auf Rahul
    Obwohl
Kommissar Patel Mr. Sethna beleidigt hatte, genoß der mißbilligende Butler seine
neue Rolle als Polizeispitzel, denn Wichtigtuerei war Mr. Sethnas hervorstechendste
Eigenschaft; und es gefiel dem alten Parsen, daß der Kommissar die zweite Mrs. Dogar
in eine Falle locken wollte. Nur schade, daß Detective Patel ihm nicht vollständig
vertraute und ihn, statt ihn in den ganzen Plan einzuweihen, immer nur häppchenweise
instruierte. Aber der Ausgang der Intrige gegen Rahul hing ganz davon ab, wie dieser
auf John D.s sexuelle Avancen reagierte. Der Polizist und der Schauspieler, die
verschiedene Verführungsszenarien durchprobierten, warteten ungeduldig auf Farrokhs
Rückkehr aus dem Zirkus; der Drehbuchautor sollte Dhar nicht nur Dialogtext liefern,
sondern mußte ihn für den Fall, daß der erste Annäherungsversuch abgeschmettert
werden sollte, auch mit alternativem Gesprächsstoff versorgen.
    Diese
Dialoge waren ungleich anspruchsvoller als jene, die Dr. Daruwalla zu schreiben
gewohnt war, weil es nicht nur darauf ankam, Rahuls mögliche Antworten und Reaktionen
vorherzusehen, sondern außerdem noch zu erraten, welche sexuellen Spielchen Mrs.
Dogar gefallen könnten. Würde sie John D. eher attraktiv finden, wenn er sich wie
ein Gentleman benahm oder wenn er etwas ungehobelt auftrat? Bevorzugte sie beim
Flirten dezentes oder offensives Vorgehen? Als Autor konnte Farrokh nur die eine
oder andere Richtung vorschlagen, in die sich der Dialog bewegen könnte. Dhar konnte
sie bezaubern, necken, in [801]  Versuchung führen oder schockieren, aber die Art der
Annäherung, für die sich der Schauspieler im konkreten Fall entscheiden würde, beruhte
auf einem spontanen Entschluß. John D. mußte sich auf seinen Instinkt verlassen,
um zu entscheiden, was funktionieren könnte. Im Anschluß an Dr. Daruwallas höchst
aufschlußreiche Gespräche mit Dhars Zwillingsbruder konnte der Doktor nur rätseln,
wie es um John D.s »Instinkt« bestellt war.
    Farrokh
war nicht darauf vorbereitet, in seiner Wohnung am Marine Drive von Detective

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