Zirkuskind
Auswahl haben. Der Zwerg wählte unter den Damen
des Wetness Cabaret die mit dem Künstlernamen Muriel aus, weil er den Eindruck hatte,
daß sie sensibler war als die anderen Stripperinnen. Als vor [806] einiger Zeit ein
Gast eine Orange nach ihr warf, regte sie sich über diese offenkundige Unhöflichkeit
immerhin auf. Engagiert zu werden, um ein bißchen im Duckworth Club zu tanzen –
noch dazu mit Inspector Dhar –, würde für Muriel einen beachtlichen Schritt nach
oben bedeuten. Ob auf die Schnelle oder nicht, Vinod lieferte die Schönheitstänzerin
rechtzeitig in der Wohnung der Daruwallas ab.
Nachdem
Dr. Daruwalla sich fertig angekleidet hatte, blieb John D. kaum noch Zeit, seinen
Dialog zu probieren. Sowohl Nancy als auch Muriel mußten genau instruiert werden,
und Detective Patel mußte sich noch telefonisch mit Mr. Sethna in Verbindung setzen.
Er las ihm eine lange Liste mit Anweisungen vor, die bei dem alten Lauscher zweifellos
auf massive Mißbilligung stießen. Vinod sollte Dhar und die Tänzerin in den Duckworth
Club fahren; Farrokh und Julia würden mit den Patels nachkommen.
John D.
nahm Dr. Daruwalla kurz beiseite und bugsierte ihn auf den Balkon hinaus. Sobald
sie allein waren, sagte Dhar: »Ich habe noch eine Frage bezüglich meiner Person,
Farrokh, denn der Dialog, den du mir verpaßt hast, ist – bestenfalls – ambivalent.«
»Ich habe
nur versucht, alle Eventualitäten einzukalkulieren, wie du es nennen würdest«, antwortete
der Drehbuchautor.
»Aber
ich nehme doch an, daß ich Interesse an Mrs. Dogar als Frau haben soll… also so,
wie sich ein Mann für sie interessieren würde«, meinte Dhar. »Und gleichzeitig lasse
ich durchblicken, daß ich mich früher mal für Rahul als Mann interessiert habe…
also so, wie sich ein Mann für einen anderen Mann interessieren würde.«
»Ja«,
sagte Farrokh vorsichtig. »Ich versuche anzudeuten, daß du in sexueller Hinsicht
neugierig bist und aggressiv… vielleicht ein bißchen bisexuell…«
»Oder
vielleicht sogar eindeutig homosexuell. Ein Homo, der sich teils deshalb für Mrs.
Dogar interessiert, weil er sich früher [807] so für Rahul interessiert hat«, unterbrach
ihn John D. »Meinst du das?«
»So was
in der Art«, sagte Dr. Daruwalla. »Ich meine, wir gehen davon aus, daß Rahul dich
früher attraktiv gefunden hat, und wir gehen davon aus, daß Mrs. Dogar dich noch
immer attraktiv findet. Abgesehen davon wissen wir eigentlich gar nichts.«
»Aber
du hast aus mir eine Art sexuelles Kuriosum gemacht«, beschwerte sich der Schauspieler.
»Du läßt mich recht sonderbar erscheinen. Als würdest du darauf setzen, daß Mrs.
Dogar um so eher auf mich anspringt, je absonderlicher ich bin. Meinst du das?«
Schauspieler
sind wirklich unmöglich, dachte der Drehbuchautor. Am liebsten hätte er zu Dhar
gesagt: Dein Zwillingsbruder hat an sich eine eindeutig homosexuelle Disposition
festgestellt. Kommt dir das bekannt vor? Statt dessen sagte er: »Ich weiß nicht,
wie ich einen Massenmörder schockieren soll. Ich versuche nur, ihn zu ködern.«
»Und ich
verlange von dir nur eine genaue Festlegung meiner Rolle«, antwortete Dhar. »Es
ist immer leichter, wenn ich weiß, wer ich sein soll.«
Das war
wieder der alte Dhar, dachte Dr. Daruwalla, sarkastisch bis ins Mark. Erleichtert
stellte er fest, daß der Schauspieler sein Selbstvertrauen zurückgewonnen hatte.
In dem
Augenblick kam Nancy auf den Balkon heraus. »Ich störe doch hoffentlich nicht, oder?«
fragte sie, trat aber sogleich ans Geländer und stützte sich darauf, ohne eine Antwort
abzuwarten.
»Nein,
nein«, murmelte Dr. Daruwalla.
»Da ist
Westen, nicht wahr?« fragte Nancy, während sie auf den Sonnenuntergang zeigte.
»Die Sonne
geht für gewöhnlich im Westen unter«, meinte Dhar.
»Und wenn
man über das Meer nach Westen gehen würde – von Bombay geradewegs über das Arabische
Meer –, wohin [808] würde man da kommen?« fragte Nancy. »Sagen wir, nach Westen und
ein bißchen nach Norden«, fügte sie hinzu.
»Na ja«,
sagte Dr. Daruwalla vorsichtig. »Westlich und ein bißchen nördlich von hier liegt
der Golf von Oman, dann kommt der Persische Golf…«
»Dann
Saudi-Arabien«, unterbrach ihn Dhar.
»Weiter«,
forderte Nancy den Doktor auf. »Gehen Sie weiter nach Westen und ein bißchen nach
Norden.«
»Da käme
man über den Jordan… nach Israel und dann zum Mittelmeer«, sagte Farrokh.
»Oder
durch Nordafrika«, meinte Inspector Dhar.
»Ja,
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