Zirkuskind
sich Farrokh an den Jungen erinnert, der geschrien
hatte: »Sie ertränken die Elefanten! Jetzt werden die Elefanten aber böse sein!«
Julia
ging hinaus, um Nancy beim Anziehen behilflich zu sein. Nancy hatte einen ganzen
Koffer voller Kleider zu den Daruwallas mitgebracht, weil sie sich nicht entscheiden
konnte, was sie zu der Silvesterparty anziehen sollte, und auf Julias Hilfe hoffte.
Die beiden Frauen einigten sich auf etwas erstaunlich Dezentes: ein graues ärmelloses
Kleid mit hohem Stehkragen, zu dem Nancy eine schlichte Perlenkette trug. Dr. Daruwalla
erkannte sie, weil sie Julia gehörte. Als sich der Doktor ins Bad zurückzog, nahm
er ein Klemmbrett und einen Packen liniertes Papier mit, außerdem eine Flasche Bier.
Er war so müde, daß ihn das heiße Bad und das kalte Bier auf der Stelle schläfrig [804] machten, doch selbst mit geschlossenen Augen sah er die möglichen Alternativen
für eine Unterhaltung zwischen John D. und der zweiten Mrs. Dogar vor sich. Oder
schrieb er für Rahul und Inspector Dhar? Das war ein Teil des Problems, denn der
Drehbuchautor hatte das Gefühl, die Figuren, für die er die Dialoge schreiben sollte,
nicht zu kennen.
Julia
hatte Farrokh erzählt, daß sich Nancy bei der schwierigen Entscheidung, was sie
anziehen sollte, so aufgeregt hatte, daß sie richtig in Schweiß geraten war. Sie
hatte in der Badewanne der Daruwallas gebadet, eine Vorstellung, bei der Farrokhs
Gedanken zwanzig Jahre zurückwanderten. In der Luft im Badezimmer hing ein fremder
Geruch – nicht Julias Duft und wahrscheinlich auch kein Parfum und kein Badeöl,
sondern etwas Ungewohntes –, der sich mit den Erinnerungen des Doktors an die Ferien
in Goa vermischte. Damit der erste Satz von Inspector Dhars Dialog überhaupt anfangen
konnte, mußte zu allererst geklärt werden, ob John D. wissen sollte, daß Mrs. Dogar
Rahul war, oder nicht. Sollte er ihr sagen, daß er wußte, wer sie war – daß er sie
in ihrer früheren Gestalt gekannt hatte –, und sollte das die erste Phase der Verführung
sein? (»Ich habe Sie schon immer begehrt« – so was in der Art.)
Die Entscheidung
für Nancys dezente Aufmachung – sie trug sogar das Haar hochgesteckt, so daß der
Nacken frei war – hatte mit ihrem dringenden Wunsch zu tun, nicht von Rahul erkannt
zu werden. Obwohl der Kommissar seiner Frau wiederholt versichert hatte, daß Rahul
sie ganz bestimmt nicht wiedererkennen würde, hatte Nancy weiterhin Angst davor.
Bei der einzigen Gelegenheit, bei der Rahul Nancy gesehen hatte, war sie nackt gewesen
und hatte ihre Haare offen getragen. Jetzt wollte Nancy ihre Haare hochstecken.
Zu Julia hatte sie gesagt, sie wolle ein Kleid anziehen, das »das Gegenteil von
nackt« war.
Doch obwohl
das graue Kleid streng wirkte, ließen sich Nancys ausgeprägt weibliche Hüften und
ihre Brüste nicht [805] verbergen. Und auch ihr dickes Haar, das normalerweise auf
die Schultern fiel, war zu schwer und nicht lang genug, um sich ordentlich hochstecken
zu lassen – zumal wenn sie tanzte. Einzelne Strähnen würden sich lösen, so daß Nancy
bald unordentlich aussehen würde. Der Drehbuchautor beschloß, Nancy mit Dhar tanzen
zu lassen; danach fielen ihm die möglichen Szenen wie von selbst ein.
Farrokh
wickelte sich ein Handtuch um den Bauch und steckte den Kopf ins Eßzimmer, wo Julia
einen kleinen Imbiß angerichtet hatte. Obwohl es bis zum Mitternachtsdinner im Duckworth
Club noch lange dauern würde, hatte niemand richtig Appetit. Der Doktor beschloß,
Dhar zu Vinod hinunterzuschicken, der in der Seitenstraße im Ambassador wartete.
Er wußte, daß der Zwerg zahlreiche Schönheitstänzerinnen aus dem Wetness Cabaret
kannte; möglicherweise war eine darunter, die ihm einen Gefallen schuldete.
»Ich möchte
dir eine Begleiterin besorgen«, erklärte Farrokh John D.
»Eine
Stripperin?« fragte John D.
»Frag
Vinod. Je flittchenhafter sie aussieht, um so besser«, antwortete der Doktor. Vermutlich
war der Silvesterabend ein wichtiger Abend im Wetness Cabaret, so daß die betreffende
Tänzerin, egal welche, den Duckworth Club frühzeitig würde verlassen müssen. Farrokh
war das nur recht. Die Frau sollte ein großes Tamtam darum machen, daß sie vor Mitternacht
aufbrechen mußte. Sie würde mit Sicherheit alles andere als dezent gekleidet sein
und gewiß nicht sonderlich duckworthianisch. Und sie würde garantiert die Aufmerksamkeit
aller Anwesenden auf sich ziehen.
So auf
die Schnelle würde Vinod keine große
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