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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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schräg durch das Spalier im Ladies’ Garden. Das Licht fiel in langen
Streifen auf die Tischdecke, wo sich der berühmteste männliche Filmstar von Bombay
damit vergnügte, verstreute Krümel mit seiner Gabel wegzuschnippen. Das Eis in der
Garnelenschale war geschmolzen. Es war Zeit, daß sich Dr. und Mrs. Daruwalla zu
der Feier in St. Ignatius aufmachten. Julia mußte ihren Mann daran erinnern, daß
sie Martin Mills versprochen hatte, sie würden frühzeitig kommen. Verständlicherweise
wollte der Scholastiker bei dem Jubiläumsessen, bei dem er der katholischen Gemeinde
vorgestellt werden sollte, sauber verbunden sein.
    »Wozu braucht er
denn Verbände?« fragte John D. »Was ist denn jetzt wieder los?«
    »Dein Zwillingsbruder
ist von einem Schimpansen gebissen worden«, teilte Farrokh dem Schauspieler mit.
»Wahrscheinlich tollwütig.«
    Hier wird im Augenblick
ziemlich viel gebissen, dachte Dhar, aber die Ereignisse des Tages hatten seinen
Hang zum Sarkasmus deutlich gedämpft. Sein Finger pochte, und er wußte, daß seine
Lippe fürchterlich aussah. Inspector Dhar sagte kein Wort.
    Als die Daruwallas
den Filmstar im Ladies’ Garden zurückließen, schloß er die Augen; er sah aus, als
würde er schlafen. Zuviel Bier, vermutete der stets wachsame Mr. Sethna. Dann rief
sich der Butler ins Gedächtnis, daß sich Dhar seiner Überzeugung nach eine Geschlechtskrankheit
zugezogen hatte. Der alte Parse revidierte seine Meinung – er kam zu dem Ergebnis,
daß Dhar unter beidem litt, dem Bier und der Krankheit – und ermahnte die Hilfskellner
ausdrücklich, den Schauspieler an seinem Tisch im Ladies’ Garden unbehelligt zu
lassen. Die [875]  Mißbilligung, die Mr. Sethna Dhar entgegenbrachte, hatte drastisch
abgenommen; er platzte fast vor Stolz, weil eine so große Berühmtheit des Hindi-Kinos
seine kleine Nebenrolle als »brillant« und »perfekt« bezeichnet hatte!
    Aber John D. schlief
nicht. Er versuchte sich zu beruhigen, eine Aufgabe, die ein Schauspieler pausenlos
zu bewältigen hat. Er überlegte sich, daß es Jahre her war, seit er sich von einer
Frau auch nur im geringsten sexuell angezogen gefühlt hatte. Aber Nancy hatte ihn
erregt – anscheinend war es ihre Wut, die er so verlockend gefunden hatte –, und
für die zweite Mrs. Dogar empfand er eine noch irritierendere Begierde. Mit geschlossenen
Augen versuchte sich der Schauspieler sein eigenes Gesicht mit einem ironischen
Ausdruck – keinem richtigen Hohnlächeln – vorzustellen. Er war neununddreißig, ein
Alter, in dem es unschön war, wenn die eigene geschlechtliche Identität ins Wanken
geriet. Er gelangte zu dem Schluß, daß nicht Mrs. Dogar ihn stimuliert hatte, sondern
daß für ihn die Anziehungskraft des ehemaligen Rahul wiederaufgelebt war – aus jener
Zeit in Goa, als Rahul noch so etwas wie ein Mann gewesen war. Dieser Gedanke tröstete
John D.; Mr. Sethna, der ihn beobachtete, hielt das, was er auf dem Gesicht des
schlafenden Filmstars sah, für ein Hohnlächeln. Dann mußte dem Schauspieler ein
beruhigender Gedanke gekommen sein, weil das höhnische einem sanften Lächeln wich.
Sicher denkt er an die alten Zeiten, überlegte der Butler… bevor er sich diese schreckliche
Krankheit zugezogen hat. Dabei hatte ein Gedanke grundlegender Art Inspector Dhar
belustigt.
    Mist, ich fange
doch hoffentlich nicht an, mich für Frauen zu interessieren! dachte der Schauspieler.
Das gäbe ein schönes Durcheinander.
    Zur selben Zeit
erlebte Dr. Daruwalla eine andere Form von Verunsicherung. Der Besuch in der Missionsstation
St. Ignatius war sein erster Aufenthalt in einer christlichen Umgebung, seit [876]  er
entdeckt hatte, wer ihn in die große Zehe gebissen hatte. Das Bewußtsein, daß die
Ursache für seine Bekehrung zum Christentum der liebestolle Biß eines transsexuellen
Massenmörders gewesen war, hatte den ohnehin langsam dahinschwindenden religiösen
Eifer des Doktors weiter verringert; daß der Zehenbeißer doch nicht der Geist jener
Pilgerin gewesen war, die den heiligen Franz Xaver verstümmelt hatte, war mehr als
nur ein bißchen enttäuschend. Und ausgerechnet da mußte Pater Julian Farrokh mit
den Worten begrüßen: »Aha, Dr. Daruwalla, unser geschätzter ehemaliger Schüler!
Sind Ihnen in letzter Zeit irgendwelche Wunder widerfahren?«
    Derart gepeinigt,
konnte der Doktor der Versuchung nicht widerstehen, Martin recht eigenwillig zu
verbinden. Er polsterte die Bißwunde am Hals des Scholastikers so dick, daß der
Verband

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