Zirkuskind
NEW YORKER HOTEL GESTORBEN
[880] Damit ließ
sie ihrem Sohn gegenüber durchblicken, wie schmutzig sie die ganze Angelegenheit
fand und welche Unannehmlichkeiten sie ihr bereitete; Vera würde fast den ganzen
Dienstag damit zubringen müssen einzukaufen. Da sie und Danny aus Kalifornien gekommen
waren – und nur ein kurzer Besuch geplant war –, hatten sie für einen längeren Aufenthalt
im Januar nichts Entsprechendes eingepackt.
Veras Telegramm
an Martin ging in bitterem Ton weiter.
DA ICH KATHOLISCH BIN, WENN AUCH KAUM EIN VORBILDLICHES EXEMPLAR DIESER
SPEZIES, BIN ICH SICHER, DANNY HÄTTE GEWOLLT, DASS DU DICH UM EINE
PASSENDE MESSE ODER LETZTE ANDACHT ODER WAS AUCH IMMER KÜMMERST
»Kaum ein vorbildliches
Exemplar dieser Spezies« war ein Musterbeispiel für die Art von Sprache, die Vera
in den längst vergangenen Tagen der traumatischen Jugend ihres Sohnes aus dem Werbespot
für Feuchtigkeitscreme gelernt hatte.
Der letzte Seitenhieb
war Vera in Reinkultur – selbst in dieser, wie man meinen sollte, kummervollen Situation
würgte sie ihrem Sohn noch eins rein:
VERSTEHE NATÜRLICH VÖLLIG, WENN DICH DEIN ARMUTSGELÜBDE DARAN HINDERT,
MICH IN DIESER SACHE ZU UNTERSTÜTZEN / MAMA
Es folgte nur
noch der Name ihres New Yorker Hotels. Trotz Martins »Armutsgelübde« erbot sich
Vera nicht, ihm die Reise zu finanzieren.
Das Telegramm an
Dr. Daruwalla war ebenfalls Vera in Reinkultur.
[881] ICH KANN MIR UNMÖGLICH VORSTELLEN, DASS DANNYS TOD ETWAS AN IHRER
ENTSCHEIDUNG ÄNDERN SOLLTE, MARTIN ÜBER DIE EXISTENZ SEINES ZWILLINGSBRUDERS IN
UNKENNTNIS ZU LASSEN
Jetzt auf einmal
ist es also meine Entscheidung, dachte Dr. Daruwalla.
BITTE BEUNRUHIGEN SIE DEN ARMEN MARTIN NICHT MIT NOCH MEHR SCHLECHTEN
NACHRICHTEN
Jetzt ist es
also der »arme Martin«, der sich aufregen würde! bemerkte Farrokh.
DA MARTIN ARMUT ALS BERUF GEWÄHLT UND DANNY MICH UNZUREICHEND VERSORGT
ZURÜCKGELASSEN HAT, SIND SIE VIELLEICHT SO FREUNDLICH, MARTIN MIT DEM GELD FÜRS
FLUGTICKET UNTER DIE ARME ZU GREIFEN / NATÜRLICH HÄTTE DANNY IHN GERN HIER GEHABT
/ VERA
Die einzige
gute Nachricht, von der Dr. Daruwalla zu dem Zeitpunkt jedoch nichts wußte, war
die, daß Danny Mills Vera noch viel schlechter versorgt zurückgelassen hatte, als
sie glaubte. Das wenige, das er besaß, hatte er der katholischen Kirche vermacht
– in der festen Überzeugung, daß Martin genau das mit dem Geld getan hätte, wenn
er es ihm vererbt hätte. Am Ende hielt nicht einmal Vera es für wert, um diese Summe
zu streiten.
In Bombay brachte
der Tag nach dem Jubiläum jede Menge Neuigkeiten. Dannys Tod und Veras Machenschaften
überschnitten sich mit Mr. Das’ Nachricht, Madhu habe den Great Blue Nile mit ihrem
frischgebackenen Ehemann verlassen; weder Martin Mills noch Dr. Daruwalla zweifelten
daran, daß Madhus Ehemann Mr. Garg war. Farrokh war sich dessen so [882] sicher, daß
sein kurzes Telegramm an den bengalischen Zirkusdirektor eine Feststellung enthielt,
keine Frage:
SIE SAGTEN, DASS DER MANN, DER MADHU GEHEIRATET HAT, EINE NARBE HAT
/ SÄURE VERMUTLICH
Der Doktor wie
auch der Missionar waren empört, daß Mr. und Mrs. Das Madhu an einen Mann wie Garg
praktisch verkauft hatten, aber Martin beschwor Farrokh, den Zirkusdirektor nicht
ins Gebet zu nehmen. In dem Bestreben, den Great Blue Nile dazu anzuspornen, die
Bemühungen des elefantenfüßigen Krüppels zu unterstützen, schloß Dr. Daruwalla sein
Telegramm an Mr. Das in Junagadh mit einer taktvollen Bemerkung:
ICH VERTRAUE DARAUF, DASS FÜR DEN
JUNGEN GANESH GUT GESORGT WIRD
Er »vertraute«
nicht darauf, er hoffte es.
In Anbetracht der
Information, die Ranjit von Mr. Subash erhalten hatte (daß Tata Zwo Dr. Daruwalla
das HIV -Testergebnis der falschen Madhu
mitgeteilt hatte), hegte der Doktor erheblich weniger Hoffnung für Madhu als für
Ganesh. Ranjits Bericht über Mr. Subashs leichtfertige Art – die Tatsache, daß der
uralte Sekretär den Irrtum als belanglos abgetan hatte – war höchst ärgerlich, doch
selbst eine angemessene Entschuldigung von Dr. Tata hätte nichts daran geändert,
daß Madhu HIV -positiv
war. Noch war sie nicht an Aids erkrankt, sondern lediglich mit dem Virus infiziert.
»Wie kann man so
etwas wie ›lediglich‹ auch nur denken«, schrie Martin Mills, den Madhus medizinische
Prognose offenbar mehr erschütterte als die Nachricht von Dannys Tod: schließlich
war Danny seit Jahren langsam vor sich hin gestorben.
[883] Es war Vormittag,
so daß
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